Arzt-Geschichten (2): der Hausarzt

Wir schreiben das Jahr 1984. Nun war es tatsächlich da, dieses ominöse Orwell-Jahr 1984. Und alles war wie immer. Fast alles. Denn mich quälte mein Ischiasnerv. So die Diagnose meines Hauarztes, den ich aus diesem Anlaß zum ersten Mal aufsuchte. Zum ersten Mal, seit ich vor zweieinhalb Jahren nach Hamburg gezogen war. Gleich nach dem Abitur aus einem Stuttgarter Vorort in die große wilde Stadt. 

Mit meinen 21 Jahren fühlte ich mich so, wie ich damals als naiver Jüngling glaubte, daß man sich mit 60 fühlen müsse: ständig Schmerzen, qualvolle Bewegungen, gebeugter Gang. Ein Bild des Jammers. Heute bin ich jenseits der 60 und beweglicher als je zuvor … 

Im April 1984 ging es los mit dem Ischias. Ich brauchte 5 Minuten, um von einem Stuhl aufzustehen oder mich hinzusetzen. Millimeterweise nur konnte ich meine Position verändern. Ein Leben in Extremzeitlupe – eine Art unfreiwilliges Tai Chi. 

In Vorlesungen und Seminaren und überhaupt in der Öffentlichkeit fühlte ich mich extrem unwohl. Zudem konnte ich die Hamburger Studentinnen mit meinem gebeugtem Greisengang nicht beeindrucken – weder an der Uni noch im Nachtleben … 

Nachdem alle Hausmittel wie Bäder und Salben nicht fruchteten, ging ich zum Arzt. Ein freundlicher Herr in den Vierzigern, der kurz fragte, was mich zu ihm führe und dann Ischias diagnostizierte. Er gab mir eine Spritze und Tabletten. Das brachte mir kurz Linderung, mehr nicht. Auch weitere Spritzen und Tabletten halfen nicht. So quälte ich mich durch den Frühling und Frühsommer in die Semesterferien. 

Da ich Philosophiestudent aus Leidenschaft war, ging’s auch in der vorlesungsfreien Zeit um Philosophie. Ich fuhr zum Wittgenstein-Symposium nach Kirchberg, einem Dorf in der Semmering-Gegend südlich von Wien, wo Ludwig Wittgenstein – damals mein Lieblings-Philosoph, Nietzsche entdeckte ich erst später – in den 1920ern als Dorfschullehrer gewirkt hatte. 

Eine Woche lang auf einem der weltweit bedeutendsten Philosophiekongresse mit Vorträgen und Gesprächen von und mit Stars der Szene – das war ein geistiger Genuß höchsten Grades! 

Meine Ischias-Qualen war allerdings auch voll dabei. Da die Damenwelt bei diesem Symposium nur in geringer Dosierung und nur als Anhängsel der Prof.-Dr.-Alphatiere anwesend war, mithin schon in Altersregionen, die mir damals, mit 21, als jenseits von Gut und Böse erschienen, war das zu verschmerzen. 

Was hat mir geholfen? 

Und dann begann „das Wunder der Heilung“ … Da man beim Gehen besonders gut denken kann, spazierten wir Philosophen jeden Tag denkend und redend über Hügel und Felder durch den heißen August. Und siehe da: Meine Schmerzen ließen nach, meine Beweglichkeit nahm zu. Tag für Tag. Ohne Spritzen, ohne Tabletten. 

Nach dem Symposium fuhr ich nach Wien und Budapest und erkundete beide Städte zu Fuß. Also jeden Tag viel Bewegung an der frischen Luft. Einfach, billig, wirkungsvoll! Das hat mir geholfen. 

Ich war in den zweieinhalb Jahren zuvor auf den Hund gekommen. Denn was macht man als Philosophie-Student? Sitzen und lesen, sitzen und lesen. Zuhause, in Biblotheken, in Seminaren. Dazu noch Kurse in Latein und Altgriechisch – Heraklit im Original zu lesen ist ein ganz exquisites Vergnügen –, und fertig war die Stubenhocker-Existenz. 

Bewegt an der frischen Luft habe ich mich nur auf dem Weg von und zum Bus, der mich an die Uni brachte. Am Wochenende gab’s eine Variante zu sitzen und lesen: herumstehen und trinken, möglichst cool, in Clubs und Bars – bis in den Morgen. In Hamburg war da viel geboten. 

In den 1980er Jahren war ein Studium keine verlängerte Schule wie heute, sondern ein Reich der Freiheit. Mit dieser Freiheit umgehen zu lernen war Teil des Erwachsenwerdens. Allerdings war meine Lernkurve, bis ich begriffen hatte, daß ein durchzechtes Party-Wochenende nicht der Weisheit letzter Schluß ist, recht weit geschwungen … 

Und nicht zu vergessen: das Mensa-Essen. Regelmäßig diese einzigartige Melange aus leeren Kohlenhydraten, Konservierungsstoffen, Geschmacksverstärkern, Zucker und schlechtem Fett zu essen, macht einen schnell zum alten Mann. 

In meiner Jugend fuhr ich mit dem Fahrrad zur Schule, und auch sonst ging alles per Rad oder zu Fuß. Kein Erwachsener wäre damals auf die Idee gekommen, einen Jugendlichen mit dem Auto zu Freunden oder ins Kino zu fahren. Der hat doch zwei Beine! Wenn er die nicht nutzen will, soll er eben daheim bleiben. 

Kurzum: Ich bewegte mich täglich und bei jedem Wetter an der frischen Luft. Nicht als Sport oder verkrampfter Fitneß-Aktionismus mit teurer Spezialkleidung, sondern als einfache normale Alltagshandlung. 

Zurück ins Jahr 1984: Schon auf der Heimfahrt mit dem Zug aus Budapest war mein Ischias verschwunden. Ab da bin ich zu Fuß oder mit dem Rad an die Uni, ich begann in Parks zu gehen und dort in der Sonne sitzend zu lesen, und am Wochenende war ich in der Natur unterwegs. So halte ich es bis heute. 

Und ich ging nur noch selten in die Mensa, lernte statt dessen kochen. Mit frischen Zutaten. Auch das hab ich bis heute beibehalten. Nichts von dem, was geholfen hat, hat mein Hausarzt mir empfohlen. Er konnte nur Spritzen und Tabletten. 

Ich habe in jenem Sommer, ohne mir dessen bewußt gewesen zu sein, eine der tiefsten Erkenntnisse der Heilkunst intuitiv auf mich selbst angewandt. Von Hippokrates, dem legendären griechischen Arzt, war sie schon vor 2.500 Jahren formuliert worden: „Bevor du jemand heilst, frage ihn, ob er bereit ist, aufzugeben, was ihn krank macht“. 

Meinem hanseatischen Hausarzt war diese Erkenntnis fremd. Ich mußte ihn in den drei weiteren Jahre, die ich in Hamburg lebte, nicht mehr bemühen.