„Ich bin allen scheißegal!“

Frau L., Mitte Fünfzig, lächelt mich an. Sie ist pünktlich, sie ist freundlich, sie ist höflich, sie ist wohlerzogen. Und genau das ist ihr Problem. Sie ist eine der Frauen, die es allen recht machen wollen – und darüber ihr eigenes Wohlergehen vergessen. Deshalb hadert sie nun mit sich und ihrem Leben.

Irgendwann kostet diese sozial so hoch geschätzte Form der langsamen Selbstzerstörung so viel Kraft, daß sie nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Wie meist drückt sich das im Körper aus, denn der kann nicht lügen.

Frau L. fühlt sich erschöpft, müde, lustlos, und seit Monaten plagt sie eine Nebenhöhlenentzündung. Das medizinische Normalprogramm hat sie schon absolviert. Ohne Erfolg. Das ist meist der Fall, wenn jemand zu mir kommt. Wir Kinesiologen sind – wie die Vertreter anderer Komplementär-Methoden auch – häufig die letzte Zuflucht für Menschen, die nicht weiter wissen und denen niemand helfen konnte.

Freundlich lächelnd schildert Frau L. mir ihre düstere Lebenslage. Dieser Kontrast zwischen innerer Verfassung und äußerem Verhalten spricht Bände. Sie müsste kochen vor Wut angesichts all dessen, was ihr angetan wurde. Doch das erlaubt sie sich nicht. Eine wohlerzogene Tochter ist nicht wütend. Sie ist immer lieb und nett. Auch wenn sie vom Vater – in Anwesenheit und mit Hilfe der Mutter – mißbraucht wird.

Das ist zwar Jahrzehnte her. Doch jetzt meldet sich diese schreckliche Kindheitserfahrung von Frau L.

Emotionale Freiheit

Ich arbeite auch mit der Methode EFT. Das ist die Abkürzung für Emotional Freedom Technique – also: Emotionale Freiheits-Technik. Ziel ist es, ein emotionale Blockade, die uns das Leben schwer macht und die unser Wachstum behindert und oft auch verhindert, aufzulösen.

Erreicht wird das auf verblüffend einfache Weise: Durch das Klopfen einiger Meridianpunkte in Kombination mit einem Satz, der möglichst drastisch und griffig den Schmerz der Klientin formuliert. Die Punkte sind im wesentlichen im Gesicht und an den Händen.

Zum Beispiel die Anfangspunkte des Magen-Meridians unter den Augen, „chéng qì“ – „Tränenbehälter“
oder der Endpunkt des Herz-Meridians, „shào chōng“ – das „kleine Hineinschießen“ am kleinen Finger.

Während des sanften Klopfens dieser Punkte spricht die Klientin ihren Satz immer wieder aus. Die Kombination aus energetischer Aktivierung und formulierter emotionaler Not vollbringt die gewünschte Befreiung.

Es muß weh tun

Das Entscheidende bei EFT ist es, den richtigen Satz zu finden. Das Kriterium dafür: Wenn jemand den Satz ohne Probleme aussprechen kann, ist es nicht der richtige. Bei EFT gilt somit dasselbe, was auch in der Kinesiologie gilt: Die Intervention gelingt um so besser, je genauer man einem Klienten das ins Bewußtsein ruft, was ihn quält.

Wenn der Klientin die Stimme wegbricht, wenn Sie beschämt auf den Boden schaut, wenn sie kurzatmig wird, wenn sie unkontrolliert aufschluchzt, wenn eine Tränenexplosion sie durchschüttelt – dann sind wir da, wo wir hin wollen, wo Veränderung möglich wird.

Kuscheln mit dem inneren Kind bei einer Tasse Rooibos-Glücks-Tee und dazu etwas positives Denken bringt Sie nicht an diesen Punkt. Im Gegenteil: Damit verhindern Sie eine wirkliche Veränderung, wirkliches reifendes Wachstum. Sie fühlen sich halt für kurze Zeit etwas besser. Und kaufen dann das nächste Selbsthilfe-Buch, das diesmal endgültig für 14,99 Euro den Durchbruch bringen wird.

Lesen Sie lieber ein Grimm-Märchen. Da erfahren Sie in jeder Zeile mehr über unsere Menschenseele als in allen Selbsthilfe-Optimierungs-Ratgebern dieser Welt zusammen.

Zurück zu Frau L. Sie hat zuerst den Satz: „Ich möchte mehr Wertschätzung“. Das kann sie aussprechen, ohne mit der Wimper zu zucken. Also ist es kein passender Satz. Ich sag ihr das.

Frau L. überlegt. Ich sehe ihr an, wie sehr es in ihr arbeitet, wie sie mit sich ringt. Noch versucht sie, die Fassung zu bewahren und die Kontrolle zu behalten. Hat sie die Kraft, das, was sie quält, wirklich auszusprechen? Läßt sie ihren Schmerz zu? Denn nur dann kommt sie weiter.

Leise und stockend sagt sie schließlich:

„Ich bin meinen Eltern egal!“

Da kommen ihr die Tränen. Sie wird zum kleinen Mädchen, das sich nach der Liebe der Eltern sehnt.
„Gut“, denke ich, „mit dem Satz könnten wir arbeiten“. Doch ich merke, daß es in Frau L. noch brodelt, also warte ich etwas. Es dauert nicht lange, und ich höre ein ebenso wütendes wie verzweifeltes

„Ich bin meiner ganzen Familie egal!“

Noch mehr Tränen, die Klientin zittert leicht.

Jetzt sind wir da, wo wir hinwollen, denke ich. Der Satz tut richtig weh. Drei Schwestern, zahlreiche Onkel und Tanten, Vettern und Basen sind nun auch dabei im grausamen Spiel.

Nun ist die Klientin bereit, die Verstandeskontrolle ganz aufzugeben. Und sie läßt auch die Scham hinter sich, die damit verbunden ist, wenn wir etwas zutiefst Schmerzhaftes und Beschämendes über unser Leben wahrnehmen und aussprechen. Sie ist nun jenseits aller sozialen Fassaden und Maskeraden. Da beginnt das Reich der Freiheit.

Das spürt Frau L. Mit einer neuen Entschlossenheit und dem Mut, es jetzt wissen zu wollen, schleudert sie mir mit Tränen und Schluchzen den Satz entgegen, der dieser Fallgeschichte ihre Überschrift gibt:

„Ich bin allen scheißegal!“


„Treffer, versenkt!“, denke ich. Mehr geht nicht. Ich bewundere den Mut von Frau L., sich ihrem Schmerz zu stellen und sich mir so nackt und wehrlos zu offenbaren. Es ist ein Moment tiefster Intimität …

Und es ist einer jener magischen Momente, wegen der ich meine Arbeit so liebe. Die Klientin ist die Klientin – und ich bin ich. Und zugleich gibt es diese Grenzen nicht mehr. Frau L.s Schmerz ist mein Schmerz, mein Mitgefühl ist ihre „Heilung“. Nur, weil ich ganz bei mir bin und zugleich ganz bei ihr, kann sich ereignen, was sich ereignet. Solche Momente lassen sich nur in Paradoxien beschreiben. Alles Lineare und eindimensional Kasuale wird ihnen nicht gerecht.

Ich denke an Joseph Beuys und sein Werk „Zeig deine Wunde“. Welche Heilkraft allein solch ein Zeigen hat, wenn jemand da ist, der es sieht. Wir wollen gesehen werden – gerade in unserer größten Not. Und wenn das geht, ohne daß der Sehende daraus ein triumphales „Ich bin stark – und du bist schwach!“ macht, dann ereignet sich ein „heil werden“, dann ist es gut.

Die Tarantino-Phase

Ich bin jedesmal aufs neue überrascht, wie schnell bei EFT die Hemmungen fallen – und denke an Freud und seine Auffassung, daß der Firnis der Zivilisation, auf den wir uns so viel einbilden, sehr sehr dünn ist.

Schon nach wenigen Minuten des Klopfens kommt das, was ich die Tarantino-Phase nenne. Denn wie in einem Film von Quentin Tarantino bricht ganz unvermittelt ein Orkan aus Gewalt, Rachsucht und Grausamkeit los. Allerdings nur in der Fantasie. Doch diese Fantasien haben es in sich.

Von humanistisch gebildeten Akademikern, feinsinnigen und hochempathischen Menschen und ausgebildeten Fachkräften in gewaltfreier Kommunikation höre ich dann Äußerungen wie diese:

  • „Tot umfallen soll die blöde Fo…, auf der Stelle!“
  • „Das Schwein soll Hodenkrebs kriegen und elend daran krepieren!“
  • „Haltet alle die Fresse! Ich hasse euch!“
  • „Der blöde Wich… soll von einem Riesen-Schw… in den A… gefi … werden!“
  • „Ich will ihm die Eier zerquetschen! Mit einer Rohrzange, ganz langsam!“
  • Die kathartische Wirkung dieser Ausbrüche entspricht voll der Tragödien-Theorie des Aristoteles. Schon bei der dritten derartigen Verwünschung ist so viel Erleichterung und Befreiung zu spüren, daß die Klienten oft zu lachen beginnen ob ihrer brutalen Gewaltfantasien. Und dann ist ein Glanz in ihren Augen, der mir zeigt, daß die emotionale Befreiung, von der die Methode ihren Namen hat, in Gang gekommen ist.

    „Du fette Sau!“

    Bevor Frau L. mit dem Klopfen der Energie-Punkte beginnt, bestimmten wir auf einer Skala von -10 bis +10 die Stärke ihres Stresses und ihrer negativen Emotionen. Frau L. zeigt ohne zu Zögern auf -9, als ich ihr die Skala hinhalte.

    Das ist heftig. Ihr Streß ist kurz vor der vollständigen Verzweiflung und Ohnmacht.

    EFT-Emotions-Skala
    Die EFT-Skala von -10 (negative Emotionen) bis +10 (positive Emotionen)

    Das Klopfen nimmt folgenden Verlauf: Der erste Durchgang dauert rund vierzig Minuten, was recht lang ist. Zunächst spricht Frau L. den Satz sehr zurückhaltend und fast scheu aus, als fürchte sie eine Bestrafung, wenn sie diese Wahrheit zu deutlich vernehmbar äußert.

    Nach ein paar geklopften Punkten kommt der Prozeß dann in Schwung. Immer lauter und fester wird Frau L.s Stimme. Und sie fügt dem „Ich bin allen scheißegal!“ immer neue Varianten von Wut, Beschimpfungen und Drohungen hinzu. Spricht sie die Mutter zunächst als „Mutter“ an, wird daraus bald eine „blöde Kuh“, dann eine „fette Sau“. Der mißbrauchende Vater wird vom „widerlichen Kerl“ zum „perversen Schwein“.

    Sie müssen sich das so vorstellen: Die Klientin klopft die Energie-Punkte, sagte dabei immer wieder „Ich bin allen scheißegal!“ und improvisiert dazu ihre Wut-Ausbrüche und -Ausdrücke, also all das, was ihre Erziehung ihr sonst verbietet. „Ich bin allen scheißegal! Auch dir, du grausame Mutter. „Ich bin allen scheißegal! Auch dir, du fette Sau“, „Ich bin allen scheißegal! Vater, Du perverses Schwein.“

    Eine neue Wirklichkeit

    Und dann gibt es einen Ruck, als Frau L. den Punkt Perikard 9 an der Spitze des Mittelfingers klopft. Und der macht seinem Namen „Ansturm auf die Mitte“ („zhōng chōng“) alle Ehre. „Ich bin okay so, wie ich bin“ ist in der Kinesiologie die emotionale Bedeutung dieses Punkts.

    Der Meridian Perikard ist der „Botschafter des Herzens“. Und seine Botschaft ist wirklich ein Ansturm auf die Mitte des Lebens von Frau L., denn auf einmal sagt sie anstelle ihre bisherigen Satzes: „Ich will nur gesund sein“.

    Da weiß ich: Die Klientin hat den Nullpunkt der Streß-Skala überschritten. Und das ganz aus ihrer Selbst-Wahrnehmung und eigenen Kraft heraus. Es braucht keine ausgetüftelten Fragetechniken, wie sie im Coaching gelehrt und praktiziert werden und die durchaus manipulativen Charakter haben, um diese Veränderung ins Positive herbeizuführen. Die energetische Wirkmächtigkeit der Meridianpunkte vollbringt den Wachstums- und Reifungsschritt.

    Der Schmerz ist raus, der Müll ist weggeräumt. An seine Stelle tritt etwas Schönes, Aufbauendes, Erfreuliches.

    Von -9 auf +2

    Wir sind durch mit der ersten, sehr intensiven und anstrengenden Klopf-Runde. Anstrengend nicht etwa, weil der Akt der Klopfens Kraft kostet, sondern weil die aufgerührten Emotionen ausgehalten und verdaut werden müssen.

    Wieder frage ich Frau L., wo sie sich nun auf der Streß- und Emotionskala sieht. Gestartet waren wir bei -9, jetzt zeigt Frau L. auf +2. Das ist für einen Durchgang sehr viel positive Veränderung. Doch mit +2 laß ich niemand aus meiner Praxis, denn das ist zu wenig Spielraum. Ein großer Stressor reicht, und die Klientin rutscht wieder unter 0.

    Deshalb nehmen wir den zweiten Klopf-Durchgang in Angriff. Nun läuft ein ganz anderer Film als vorher: Mit leuchtenden Augen legt Frau L. los. Ihr neuer Satz lautet: „Ich bin gesund – mir geht es gut!“ Sie weiß, das Tal der Tränen liegt hinter ihr, und mit jedem Klopfen eines Energie-Punktes flutet sie sich mit positiven Emotionen.

    Entsprechend leichter und gelöster geht es nun voran. Diesmal ist Frau L. schon nach einer Viertelstunde durch. Nun steht sie bei +5. Und dabei belassen wir’s. Eine weitere, dritte Klopf-Runde, um auf +7 oder +8 zu kommen, wäre übertriebender Ehrgeiz. Wir müssen den Bogen nicht überspannen. Von -9 auf +5 ist eine riesige Verbesserung der emotionalen Verfassung.

    Wir verabschieden uns. Wieder lächelt Frau L. mich freundlich an. Doch diesmal ist es kein der Konvention geschuldetes Fassaden-Lächeln, sondern ein Herz-Lächeln auf einer gesunden emotionalen Basis.