Dürfen Sie fühlen, was Sie fühlen?

Jeder kennt sie: die Turbo-Meditierer. Sie betreiben Gefühlsbetäubung mittels Spiritualität. Und vermeiden so die Begegnung mit ihren Gefühlen.

* * * * * * * *

Sei doch vernünftig!“ Nicht nur Kinder versuchen wir mit diesem Satz zu „erziehen“, auch Erwachsene bekommen ihn zu hören, wenn sie den Spock-Modus verlassen und Gefühle offenbaren. Dieser Vernunft-Appell ist meist der Versuch, unsere eigene Unfähigkeit, mit Gefühlen umzugehen, zu verdecken.

Wir sind überfordert mit den Gefühlen eines anderen und schieben ihm deshalb die Schuld zu. In der „normalen“, sprich: üblichen, alltäglichen Welt- und Menschensicht sind Gefühle eine Schwäche. Sie sind ein Kontrollverlust, ein Mangel an Beherrschung, eine Störung des reibungslosen Funktionierens im sozialen Getriebe.

Die Redewendung „Laß uns das wie Erwachsene regeln“ bedeutet in der Praxis: Ignoriere deine Gefühle. Vor allem bedeutet es: Nerve mich damit nicht! Also verzichten wir darauf, unsere Gefühle auszudrücken und produzieren statt dessen lieber eine Allergie oder eine Unverträglichkeit, Schlafstörungen oder Arthritis – oder gleich MS, eine Depression oder Krebs.

Wohlgemerkt: Ich rede hier nicht dem ungebremsten und rücksichtslosen Ausagieren jedes Gefühls das Wort, denn das kommt sehr selten vor. Mir geht es um die „übliche“ Rücksichtslosigkeit, mit der wir uns selbst behandeln, denn wir nehmen viel Rücksicht auf andere, doch häufig nicht auf uns selbst. Wir tun uns an, was wir anderen nie antun würden. Weil wir glauben, aushalten und durchhalten zu müssen.

Deshalb hören und sehen wir uns selbst nicht, vor allem spüren wir uns selbst nicht. Und damit wir nicht spüren, daß wir uns nicht spüren – der Schmerz darüber wäre zu groß! – betäuben wir uns. Wir betäuben uns mit Essen und Arbeit, mit Sex und Social Media, mit Alkohol und Sport, mit Reisen und Spiritualität. Das volle Programm. Jeden Tag.

Besonders raffiniert ist die boomende Selbst-Betäubung mittels Spiritualität, denn sie schreitet in hehren Gewändern einher. Ich nenne diese Leute Powerpoint-Buddhisten, denn sie tragen ihre sogenannte Spiritualität wie eine Powerpoint-Präsentation vor sich her, um andere damit zu beeindrucken.

Ihr Projekt Erleuchtung gehen sie mit demselben Leistungs- und Effizienz-Ehrgeiz an wie ihren Alltag als Anwalt, Arzt oder Manager. Sie meditieren mit Excel-Tabellen, die ihre Fortschritte dokumentieren.

Ihr Hauptziel dabei ist es, sich nicht mir ihren Gefühlen befassen zu müssen. All der Neid und die Eifersucht, der Haß und die Scham, die Wut und die Trauer, die die Demütigungen und Erniedrigungen, die jeder Mensch durch Eltern, Geschwister, Mitschüler und Partner erlebt und erleidet, werden krampfhaft hinwegspiritualisiert.

Aus der Sicht dieser Beinah-Erleuchteten haben nur primitive Menschen starke Gefühle. Sie selbst sind ja viel weiter in ihrer Entwicklung …

In unzähligen Büchern, Kursen und Retreats wird das permanente Gesäusel von Liebe und Verständnis sowie der Zwang zu Vergebung und Versöhnung den Leuten in Hirne und Herzen geblasen, damit sie sich besser fühlen.

Bis der nächste Kurs und das nächste Buch nötig werden. Denn das kurzfristige Sich-besser-fühlen ist nur ein buntes Pflaster auf einer tiefsitzenden emotionalen Entzündung. Die spirtuell-rationalisierende Vermeidung, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und wirklich mit sich und seinen Wunden in Kontakt zu kommen, verhindert jedes Wachstum und jede Heilung.

Ken Wilber triftt den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt: „Ein Neurotiker, der meditiert, wird bestenfalls ein erleuchteter Neurotiker“.

15. Oktober 2023