Lehrmeister Fussel

Die kleinen Dinge können große Lehrer für uns sein. Wenn wir sie wahrnehmen und hinhören – z.B. eine Fussel. 

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Das prägende Erlebnis, von dem ich hier erzähle, ist rund zehn Jahre her. Ich erinnerte mich kürzlich daran, als ich in einem Qi-Gong-Workshop bei einer Übung eine Fussel auf meiner Hose wahrnahm, die mich so nervte, daß ich völlig aus dem Rhythmus gekommen bin.

Hier nun meine damalige Wachstums-Erfahrung: Ich bin im Gespräch mit einer Klientin. Sie erzählt mir eine emotional belastende Schlüsselszene ihres Lebens. Währenddessen bemerke ich eine Fussel auf meinem weißen Hemd. Ich versuche, die Fussel unauffällig wegzuwischen – doch es gelingt mir nicht. Auch mein nächster Versuch, das Ding loszuwerden, mißlingt.

Diese verdammte Fussel ist wie festgeklebt. Sie fordert nun meine volle Aufmerksamkeit! Die Klientin ist nicht mehr auf meinem Radar. Ich schaue nach unten zum Fusselbiest auf meinem Hemd, um ihm endlich den Garaus zu machen. Schließlich erwische ich das unverschämte Stück, pflücke es, und lasse es auf den Boden segeln.

Dann merke ich, daß es still im Raum ist und schaue auf: in das entsetzte Gesicht der Klientin, die meinen heroischen Kampf mit der Fussel ungläubig verfolgt hat. „Wie kann der sich angesichts meiner Geschichte mit einer Fussel befassen? Spinnt der? Wo bin ich denn hier gelandet!?“

Nichts davon sagt sie. Doch die Botschaft ihrer Augen kommt an. Ich bin beschämt und zerknirscht.

Wie es der Zufall bzw. die Fügung so will, erlebte ich kurz später diese Szene andersherum. Es war die Anfangszeit meiner Psychoanalyse, als meine Analytikerin sich noch viel notiert hat. Ich erzählte von einer emotional belastenden Schlüsselszene meines Lebens – und die Analytikerin hielt den Aufmerksamkeits-Kontakt zu mir nicht, sondern war mit ihren Aufzeichnungen beschäftigt.

Also hörte ich auf zu reden, bis sie aufblickte und ebenso erschrocken wie ich bei meiner Klientin bemerkte, was geschehen war. Und ich spürte am eigenen Leib, wie verletzend und schmerzhaft es ist, wenn der Therapeut oder Coach nicht ganz beim Klienten ist.

Seither mache ich mir bei Gesprächen mit Klienten keine Notizen mehr. Ich arbeite nach dem Motto: Was wichtig ist, prägt sich ein. Ob ich mir merke, daß der Hamster aus der Kindheit „Hansi“ oder „Karlo“ hieß, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, daß ich bei der Hamster-Geschichte voll präsent bin und nicht vom Mitschreiben oder von einer Fussel abgelenkt werde.

Deshalb gilt mein Dank jener Fussel, der ich vor rund zehn Jahren begegnet bin: Ich hab‘ von ihr mehr gelernt als in so mancher Weiterbildung

12. Mai 2024