„Er muß jetzt in die Kühlung“ …

… sagte die Krankenschwester zu Martina L., als sie ins Zimmer kam, um den still geborenen Jungen aus den Armen der Mutter zu holen. Obwohl seither fast ein Jahr vergangen ist, ist dieser Satz immer noch wie ein Stich ins Herz von Frau L. Sie hat Tränen in den Augen, als sie mir davon erzählt. Ihr tiefer Schmerz füllt den Raum.

Ich sitze fassungslos dabei. Daß es so etwas immer noch gibt!? Heute, wo wir so viel wissen über die Macht von Worten und Sätzen. Worte können Schläge und Tritte sein, sie können Liebkosungen und Umarmungen sein; ein falsches Wort zur falschen Zeit quält und verfolgt uns Jahre und Jahrzehnte.

Das ist alles zur Genüge bekannt. Und dann dieser Satz! Ich möchte aufspringen, diese Krankenschwester packen und schütteln, damit sie aus ihrem Trott erwacht und beginnt wahrzunehmen, was sie in einer trauernden Mutter anrichtet mit so einer Bemerkung.

Wenn wir mit Unglück, Leid und Schmerz eines anderen Menschen konfrontiert werden, sind wir meist hilflos und überfordert. Wir glauben dann, etwas sagen zu müssen. Dabei wäre es fast immer das beste, einfach nur da zu sein für den Leidenden, ihn zu halten, zu umarmen und dadurch seinem Schmerz die Spitze zu nehmen. (Wie wichtig Berührung für uns Menschen ist, habe ich in meinem Beitrag „Lassen Sie sich berühren!“ dargestellt.)

Doch wir meinen, reden zu müssen. Also sagen wir etwas, obwohl wir keine Ahnung haben, was das Richtige wäre. Und so reden wir irgendeinen Unsinn daher, der vor allem dazu dient, unsere eigene Unsicherheit zu verdecken und unsere eigene Angst vor Schmerz und Tod in den Griff zu bekommen. Dadurch verschlimmern wir den Schmerz dessen, dem wir mit Worten Trost geben wollen.

Unsere zwei Gesichter

Martina L., 39, ist bei mir, weil sie Mutter werden möchte. Im Januar 2022 wurde ihr Sohn Mario im 5. Monat still geboren. Nun ist es November – und die Trauer beherrscht nach wie vor Frau L.s Leben. Im Sommerurlaub wurde sie nach einer Woche krank, weil ihr der tägliche Besuch am Grab des Sohnes fehlte. Die Krankheit gab ihr einen guten Grund, früher als geplant nach Hause zu fahren, so daß sie ihren Mario wieder besuchen konnte.

Die tiefe Trauer um ihren Sohn ist Frau L. ins Gesicht geschrieben – in die linke Gesichtshälfte genauer gesagt. Ich arbeite mit der Gesichtsdiagnose der chinesischen Medizin. Danach haben wir zwei unterschiedliche Gesichtshälften: die rechte Hälfte ist unsere öffentliche Seite, unsere Maske, sie zeigt, wie wir wahrgenommen werden wollen; die linke Gesichtshälfte zeigt unsere inneren Empfindungen, unseren wahren emotionalen Zustand mit allem Unterdrückten und Verdrängten.

Je symmetrischer ein Gesicht, desto harmonischer ist das Gefühlsleben seines Trägers, er braucht keine zwei Gesichter, muß seine Gefühle nicht verbergen. Deshalb schaue ich bei Erstsitzungen mit meinem linken Auge nacheinander die Gesichtshälften eines Klienten an, um zu sehen, wie er glaubt, sein zu müssen (rechts), und um sein „wahres Gesicht“ (links) zu erkennen, denn dort ist sein Anliegen ausgedrückt, das, was ihn zu mir führt.

Machen Sie den Gesichtshälften-Test mal mit dem Foto eines Prominenten, z.B. mit Robbie Williams: Schließen Sie Ihr rechtes Auge, decken Sie je eine Gesichtshälfte des Fotos ab und lassen Sie das jeweilige halbe Gesicht auf sich wirken. Im Fall Robbie Williams zeigt sein öffentliches Gesicht (rechte Seite) einen entschlossenen, fröhlichen Strahlemann, der sein Leben im Griff hat; sein wahres Gesicht (links) dagegen zeigt einen verschreckten, verstörten, zutiefst einsamen kleinen Jungen.

Quälender Zwiespalt

Zurück zu Martina L. Sie steckt in einem quälenden Zwiespalt: einerseits ihr Kinderwunsch, andererseits das Gefühl, den verstorbenen Mario wegzuschieben, damit Platz für ein neues Kind ist, wenn sie wieder schwanger werden würde.

Diese emotionale Blockade verhindert eine erneute Schwangerschaft. Die Segnungen der modernen Reproduktionsmedizin kommen auf dieser Stufe nicht zum Tragen, weil es nicht um Eizellen und Spermien geht – vielmehr verhindert eine innere Bannbotschaft, ein inneres Verbot eine neue Empfängnis.

Frau L. zeigt mir ein Collage-Bild, das sie auch auf Reisen immer dabei hat und das unter anderem ein Ultraschallbild Marios zeigt, seinen Grabstein, zudem Sterne und – besonders ergreifend – die Fußabdrücke ihres Sohnes, die die gleiche außergewöhnliche Zehenstellung haben wie ihre Füße.

Wir lassen dieses Bild auf uns wirken, dann stelle ich einen Stuhl neben Frau L.s Sessel und bitte sie, sich vorzustellen, daß darauf ihr Sohn Mario sitzt. Sie zuckt zusammen – und erstarrt dann, denn das ist sehr viel verlangt. Sie geht nun ins Zentrum ihres Schmerzes. Genau da muß sie hin, um die Blockaden lösen zu können, die sie quälen und die ihren Kinderwunsch sabotieren.

Ich warte, bis sie einigermaßen mit dieser Vorstellung zurecht kommt. Und dann mute ich ihr noch mehr zu: „Setzen Sie sich nun bitte auf Marios Stuhl; spüren Sie, wie es ist, Mario zu sein; dann sagen Sie als Mario zu sich als Mutter, was er ihnen mitteilen möchte“.

Ein magischer Moment

Martina L. schließt die Augen und versinkt erstmal in sich, um von dieser Aufforderung nicht zermalmt zu werden. Ich lasse ihr Zeit, damit sie Kraft sammeln kann. Ich spüre, daß sie spürt, an einem Wendepunkt zu stehen. Ich meine, ihre Gedanken lesen zu können:

„Wenn ich das schaffe, dann kann ich die lähmende finstere Trauer hinter mir lassen, ohne meinen Sohn wegzuschieben“.

Frau L. faßt sich ein Herz, steht auf, geht zum Stuhl und setzt sich. Ich bewundere ihre Entschlossenheit und ihren Mut. Mutig sein heißt handeln, obwohl man Angst hat. Genau das tut Martina L. Sie hat Angst vor dem, was nun kommt – und trotzdem handelt sie. Für sich, für ihren verstorbenen Sohn, für das Kind, das sie und ihr Mann sich wünschen.

Zugleich merke ich, daß nun einer dieser magischen, mich zutiefst ergreifenden Momente kommt, an die ich mich noch in vielen Jahren erinnern werde: Wenn eine Klientin über sich hinaus wächst, Anlauf nimmt und in einen vermeintlichen Abgrund springt, weil sie mir vertraut, daß ihr im Augenblick des Sprungs Flügel wachsen – und sie dann tatsächlich zu fliegen beginnt …

Die erlösende Erlaubnis

Nun setzt Martina L. zum Sprechen an, doch nur zögernd formen sich Worte. Erst fließen Tränen – aus tiefster Tiefe –, dann spricht sie als Mario aus, was sie als Mutter nicht einmal zu denken wagt:

„Mama, ich würde mich über ein Geschwisterchen freuen. Ich weiß, daß du mich liebst. Ich liebe dich und möchte, daß du glücklich bist.“

Frau L. weint befreit, und auch mir kommen die Tränen, so bewegend ist diese Erlaubnis, die Frau L. sich durch den Mund ihres Sohnes gibt. Sie ist dabei die Handelnde, sie öffnet das Tor, läßt frische Luft und Licht herein und schafft den Raum, in dem ein neues Kind entstehen kann, ohne das andere wegzuschieben.

Danach setzt Martina L. sich zurück in ihren Sessel und sagt zu ihrem Sohn auf dem Stuhl: „Du wirst immer bei mir sein. Ich werde immer bei dir sein. Wir lieben dich, und du wirst immer Teil unserer Familie sein“. Ein tiefer Frieden umhüllt die Szene. Zugleich eine tiefe Erschöpfung, denn was Frau L. in wenigen Minuten vollbracht hat, war emotional extrem anstrengend.

Lebendige Erfahrung statt totes Wissen

Ich weiß genau, was ich Frau L. zumute. In meiner Kinesiologie-Ausbildung war der Eigenprozeß zentral. Sich irgendeine Technik aneignen, das kann jeder, der nicht auf den Kopf gefallen ist und etwas Fleiß an den Tag legt. Doch diese Technik ist totes Wissen, wenn sie nicht auf tiefster Ebene mit eigenen emotionalen Erfahrungen verbunden ist.

Das geht nicht mit Rollenspielen. Man kann nicht so tun, als wolle man sich umbringen und dann an diesem Thema gewinnbringend arbeiten und Methoden daran üben. In meiner Ausbildungsgruppe von 20 Teilnehmern hatten wir ein breites Spektrum des normalen Wahnsinns, den wir Leben nennen: sexuellen Mißbrauch, Suizid-Versuch, Eßstörung, Kindes-Verlust, Depression, narzißtische Störung …

Damit haben wir gearbeitet und gelernt. Jeder, der dabei war, weiß, wie schmerzhaft dieses Arbeiten war. Und jeder war stolz und glücklich, durch diesen Schmerz gegangen zu sein, denn er ist das Tor zu mehr Freiheit und mehr Gesundheit – und zu wirksamer Arbeit für andere als Kinesiologe. Der Reifegrad des Therapeuten ist die Grenze für die Entwicklungsmöglichkeit des Klienten. Deshalb sind graue Haare von Vorteil, so sie denn Folgen einer Reifung sind und nicht nur eine Pigment-Veränderung …

Unser Nabel – Ozean des Lebens

Die Sitzung ist noch nicht zu Ende, denn so viel auch erreicht ist, in diesem extrem emotionalisierten Zustand möchte ich Frau L. nicht nach Hause gehen lassen. Die Operation ist gelungen, doch die Wunde muß gut gesalbt und verbunden werden, sonst entzündet sie sich statt zu heilen.

Das bedeutet: Stärkung der emotionalen Verdauungskraft und Stabilisierung der Mitte. In unserer Mitte sind unsere Nabel. Sie haben richtig gelesen: Mehrzahl. Wir haben nicht nur einen Bauchnabel, sondern auch einen Rückennabel. Um die beiden kümmern wir uns jetzt – mit einer Nabel-Balance.

Den Bauchnabel kennt jeder. Er ist der Ozean des Lebens. Durch ihn wurden wir neun Monate lang genährt, er ist die erste Quelle der Nahrungsaufnahme. Hier ist auch ursprüngliches Chi gespeichert. Durch die Nabel-Balance kommt ein Mensch wieder in Kontakt mit seinen ursprünglichen Energien, er kommt zur Ruhe und ins innere Gleichgewicht – er fühlt sich geborgen und genährt. Genau das braucht Martina L. jetzt.

Der Rückennabel liegt dem Bauchnabel gegenüber, als vierter Punkt des Meridians „Dū Mài“, der in der Körpermitte vom Damm über Wirbelsäule und Kopf bis hinter die Oberlippe verläuft. Der vierte Punkt liegt zwischen den Nieren und heißt „mìng mén“ – „Tor der Bestimmung“ oder „Tor des Lebens“.

In der Akupunktur wird dieser Punkt genutzt, wenn etwas Fundamentales in der Entwicklung eines Menschen unterbrochen wurde, wenn er seine innere Bestimmung verloren hat und die natürliche Entwicklung seines Wesens selbst behindert.

Einfach und wirksam

Die Nabel-Balance besticht durch ihre Einfachheit – das passende Gegenstück zu ihrer Wirksamkeit. Martina L. liegt auf dem Rücken auf der Behandlungsliege. Ich sitze daneben und habe eine Hand auf ihrem Bauchnabel, die andere Hand unter dem Rückennabel. Ich halte ihre Mitte zwischen meinen Händen und verbinde die beiden Nabel.

Nun beginnt die Reise. Ich mache nichts – Frau L. macht nichts. Und doch geschieht bald sehr viel. Es ist ein Paradebeispiel für das taoistische Prinzip des „Wú Wéi“ – des Handelns ohne zu handeln. Laotses berühmte Formulierung dazu lautet: „Der Weise wirkt ohne zu handeln – und doch bleibt nichts ungetan“.

So sitze ich, spüre die Wärme zwischen meinen Handflächen und das Kommen und Gehen des Atems in Frau L.s Bauch, höre das leise Rauschen des Heizkörpers. Ich hab’ die Augen geschlossen, schaue nicht auf die Uhr, denke nicht an die nächsten Schritte der Sitzung, nicht an das Mittagessen, das danach auf mich wartet, und vor allem nicht an das, was durch die Nabel-Balance geschehen könnte. Ich will nichts erreichen, strebe nichts an. Ich bin einfach nur da. Die Zeit steht still.

Und dann taucht er auf einmal auf, der furchtbare Krankenschwestern-Satz, der dieser Geschichte den Titel gibt: „Er muß jetzt in die Kühlung“. Die nährende, zentrierende Nabel-Energie gibt Frau L. die Kraft, sich diese schmerzhafte Erinnerung nun zu vergegenwärtigen und zuzulassen.

Martina L. erzählt mir, was damals im Januar geschah: vom vorzeitigen Blasensprung, von der stillen Geburt, vom Trost, ihren Sohn in den Armen zu halten und sich von ihm zu verabschieden – und von dem Messer-ins-Herz-Satz, als die Schwester kam, den Kleinen abzuholen.

Nachdem Frau L. all das erzählt hat, halte ich die Nabel noch eine Weile, bis die Wellen der Erinnerung sich wieder beruhigt haben. Damit sind wir fertig für heute. Es war ein Durchbruch – gleichermaßen intensiv und bewegend für uns beide.

Drei grausame Sätze

Drei Wochen später ist Martina L. wieder bei mir. Es ist kurz vor Weihnachten. Als ich ihr erläutere, daß wir heute den Satz „Er muß jetzt in die Kühlung“, der bei der Nabel-Balance in der letzten Sitzung aufgetaucht war, angehen, sprudelt es aus ihr hervor: „Da sind noch mehr Sätze, die mich schmerzen!“

Nun erzählt Frau L. mir von weiteren Situationen, in denen ein nebenbei hingeworfener Satz sie tief verletzt hat.

Während einer Blutabnahme bei der Gynäkologin ließ eine Helferin nebenbei diese Bemerkung fallen: „Ihre ach so natürliche ICSI.“ ICSI – gesprochen wie IXI – ist die Abkürzung für Intra-Cytoplasmatische Spermien-Injektion. Bei dieser Art der künstlichen Befruchtung wird eine einzelne Samenzelle direkt in eine Eizelle injiziert, die der Frau entnommen wurde. Bei der „ICSI naturelle“, für die sich Frau L. und ihr Mann entschieden haben, wird weitgehend auf eine Hormonstimulation verzichtet, da der natürliche Zyklus für die Gesundheit der Frau vorteilhafter ist.

Bei Frau L. kam als Botschaft an: „Eine Kinderwunsch-Behandlung – egal in welcher Form – hat nichts mit der Natur zu tun. Ich halte davon gar nichts.“

Schließlich erzählt Martina L., wie sie mit einer Freundin Marios Grab besuchte und diese dort zu ihr sagte: „Ich bin wütend auf Mario! Wieso hat er das gemacht?“ Auch dieser unbedacht geäußerte Vorwurf an ihren verstorbenen Sohn schmerzt Frau L. bis heute.

Schütteln und Klopfen

Wir haben nun drei Sätze, deren emotional vergiftende Macht wir mildern und womöglich auflösen werden. Auf eine Skala von -10 bis +10 lasse ich Frau L. die Sätze nach ihrem emotionalen Streß bewerten:

  • Er muß jetzt in die Kühlung.  -9
  • Ihre ach so natürliche ICSI.  -5
  • Ich bin wütend auf Mario! Wieso hat er das gemacht?  -8

Das sind heftige Minuswerte, die Frau L.s Schmerz deutlich machen.

Mit dem Muskeltest erfrage ich, ob wir die Sätze einzeln bearbeiten müssen. Nein, müssen wir nicht. „Wir können alle drei gemeinsam bearbeiten?“, frage ich zur Vergewisserung nach. Vom Muskel kommt ein klares „ja“. Wir packen also die drei Sätze gedanklich in einen Topf, um das Gift aus ihnen herauszukochen.

Das dafür nötige Feuer erzeugen wir durch Schütteln und Klopfen. Auch das ist – wie die Nabel-Balance – eine verblüffend einfache Methode, die sehr tief geht.

Zum Schütteln gebe ich Frau L. das Bild eine Hundes, der aus dem Wasser kommt und sich das Fell trocken schüttelt. So, wie dabei die Wassertropfen in alle Richtungen davonfliegen, sollen bei Frau L. durchs Schütteln Streß und Schmerz davonfliegen.

Wir schütteln gemeinsam

Geschüttelt wird der ganze Körper – mit offenem Mund und der Vorstellung, eine Gliederpuppe ohne Muskeln zu sein, damit es möglichst locker wird. Dazu vergegenwärtigt Martina L. sich die drei Sätze und nimmt wahr, was sich dabei in ihr tut. Das kann eine Körperwahrnehmung sein, ein Gefühl, ein Gedanke, eine Erinnerung, ein Bild.

Auch ich schüttel mich, denn sonst käme Frau L. sich komisch vor und wäre gehemmt, so daß sie nicht mit ganzem Einsatz bei der Sache wäre. Ich schüttel zu einem eigenen Thema – es gibt immer irgendeinen Stressor, den man reduzieren kann. Also tut es mir auch gut.

Mir machen zwei Schüttel-Runden, die jeweils gute fünf Minuten dauern. Dadurch erreichen wir folgende Veränderungen der Streßwerte:

  • Er muß jetzt in die Kühlung. Von -9 zu -7, dann zu -5
  • Ihre ach so natürliche ICSI. Von -5 zu -3 , dann zu -1
  • Ich bin wütend auf Mario! Wieso hat er das gemacht? Von -8 zu -4, dann zu -1

Sind Pluswerte überhaupt möglich?

Das ist eine deutliche Verbesserung, auch wenn alle Werte noch im Minus sind. Frau L. kann sich nicht vorstellen, mit den für sie so schmerzhaften Sätzen in den positiven Teil der Streßskala zu kommen. Denn wie sollte sie dem Satz „Er muß jetzt in die Kühlung“ jemals etwas Positives abgewinnen können?

„Schauen Sie einfach, was geschieht, lassen Sie sich überraschen, wenn wir jetzt mit Klopfen weitermachen“, sage ich ihr. Mit Klopfen ist EFT gemeint, die Emotional Freedom Technique, also: Emotionale Freiheits-Technik. Ziel ist es, eine emotionale Blockade, die uns das Leben schwer macht und die unser Wachstum behindert und oft auch verhindert, aufzulösen.

Frau L. klopft bestimmte Energiepunkte, z.B. den Anfang des Magen-Meridians oder den Endpunkt des Herz-Meridians, und spricht dazu ihre drei Streßsätze aus. Das laut Aussprechen sei ihr nicht möglich, gibt Frau L. mir zu verstehen; sie läßt die Sätze deshalb nur innerlich erklingen.

Emotionale Schwerarbeit

Das Klopfen ist emotional-energetisch sehr fordernd. Martina L. bekommt kalte Hände und Füße, der Rumpf benötigt alles an Energie. Zugleich führt das Klopfen zu einer spannungslösenden, wohltuenden Klärung, die an die Stelle des bisherigen belastenden Drucks tritt.

Frau L. wird während des Klopfens klar, daß alle Personen diese schmerzenden Sätze aus Unsicherheit, Verlegenheit und Überforderung gesagt haben. Niemand wollte ihr Böses. Das zu erkennen, ist ebenfalls sehr erleichternd.

Beim Klopfen tauchen plötzlich Bilder und Erinnerungen auf, die ihr bisher nicht zugänglich waren und die eine neue, positive Qualität haben. So erinnert Frau L. sich, daß die Freundin, die gesagt hatte „Ich bin wütend auf Mario! Wieso hat er das gemacht?“, jede Woche eine Sonnenblume auf sein Grab legte, als sie selbst im Urlaub war. Diese liebevolle Geste zeigt eine ganz andere Freundin als der vergiftete Satz.

Und auch bei der Krankenhaus-Erfahrung mit dem Kühlungs-Satz tritt eine neue Facette in Erscheinung, als Frau L. einen Punkt des Herz-Meridians klopft: Eine andere Krankenschwester kam zu ihr und sagte „Ich kann ihnen ihr Mäuschen jederzeit bringen, wenn sie’s nochmal haben wollen“. Diese Szene taucht nun nach langer Zeit wieder in Martina L.s Bewußtsein auf – befreit durch das Energie-Klopfen.

Frau L. nahm dieses Angebot an. Und als sie und ihr Mann eine leicht veränderte Hautfarbe an ihrem Sohn bemerkten, nahmen sie gemeinsam von ihm Abschied mit einem „Wir lassen Dich jetzt in Ruhe“.

Mut und Entschlossenheit

Auch beim Klopfen machen wir zwei Durchgänge. Der erste bringt bei allen Sätzen einen Sprung auf die neutrale 0 oder ins Positive, der zweite, viele kürzere, erzielt nur noch eine geringe Verbesserung:

  • Er muß jetzt in die Kühlung. Von -5 zu +2; bleibt bei +2
  • Ihre ach so natürliche ICSI. Von -1 zu 0, dann zu +2
  • Ich bin wütend auf Mario! Wieso hat er das gemacht? Von -1 zu +2; bleibt bei +2

Dabei belassen wir’s. Ob eine weitere Bearbeitung dieser Sätze nötig ist, wird sich zeigen. Der Veränderungs-Prozeß, den wir heute angestoßen haben, läuft weiter. In der Regel dauert es zwei bis drei Wochen, bis die positive Veränderung neue Normalität ist.

Frau L. hat in diesen beiden Sitzungen mit sehr viel Mut und großer Entschlossenheit ihre Dämonen ??? … an dieser Stelle fällt es mir schwer, das richtige Wort zu finden.

Bekämpft“ wäre falsch, weil es kein Kampf gegen etwas war. „Besiegt“ wäre gleichermaßen falsch, weil es keinen Verlierer gibt, sondern nur Gewinner. „Besänftig“ kommt mir in den Sinn; das paßt ganz gut, heißt aber, daß noch etwas davon weiterwirkt, was wir noch nicht wissen.

Befriedet“ gefällt mir am besten. Es ist ein Frieden, der dem verstorbenen Sohn seinen angemessenen Platz gibt und für ein weiteres Kind den Raum öffnet, in dem es entstehen kann.