Der digitale (Selbst)-Betrug

Mit Zoom und Teams in die digitale Depression. Viele Coaches finden das prächtig und preisen die Abschaffung des Menschen.

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Oh, wie schön ist das digitale Leben mit Zoom, Teams und Meet. Man kann die Schlafanzug-Hosen anlassen, muß nicht Zähne putzen und nicht vor die Tür. Schnell kämmen und einen netten künstlichen Hintergrund einstellen (Palmenstrand ist beliebt) – und los geht’s mit der Online-Besprechung oder dem Online-Coaching.

Wo man hinguckt, nur Vorteile: Bei einer Begegnung im digitalen Raum hat man freie Terminwahl, keinen Zeitaufwand für Anreise und Aufenthalt, keine Kosten für Fahrt, Hotel sowie Verpflegung und kann den Termin zwischen Bügeln und Spülmaschineausräumen einschieben. Und nebenbei simst und twittert man außerhalb des sichtbaren Bildes mit verstohlenem Blick nach unten.

Konzentration kann man sich auch sparen, denn es gibt ja eine Aufzeichnung, die man sich, wenn mal genügend Zeit ist – also nie – in Ruhe anschauen kann.

Einfach klasse, dieses moderne digitale Leben! Wären da nicht die Spielverderber, mithin Menschen die vor dem goldenen Digital-Kalb nicht anbetend in die Knie sinken, sondern genauer hinschauen – wenn’s sein muß auch zweimal oder dreimal.Machen Sie wichtige Dinge per Zoom? Zum Beispiel Urlaub, Kindergeburtstag, eine Bergtour, einen Grillabend oder ein Date? Sie schütteln den Kopf? Warum? Ich könnte Ihnen eine lange Liste mit all den Vorteilen erstellen, die das Digital-Format bei diesen Beschäftigungen für Sie hätte. Aber Sie würden nicht anbeißen. Warum wohl!?

Ausgerechnet ein Coaching – also eine Begegnung von Menschen, bei der es ans Eingemachte geht, wo der ganze Mensch in seiner ganzen Tiefe, seiner ganzen Freude, seinem ganzen Schmerz gefordert wird –, soll digital wunderbar funktionieren!?

Seltsam, sehr seltsam, wie viele Leute in der Coaching-Branche Tausende gute Gründe anführen für die angeblichen Vorteile des Online-Coachings. Jeder Blog verkündet das, jede Coaching-Zeitschrift propagiert es, jedes Publikums-Magazin ruft Hosianna. Dem kurzschlüssigen Rationalisieren und Intellektualisieren sind Tür und Tor weit geöffnet.

Doch immer mehr Mediziner, Soziologen und Psychologen weisen darauf hin, welche Verheerungen dieser neue Kult der Abwesenheit anrichtet: Zoom und Konsorten erzeugen Erschöpfung, Burnout und digitale Depression. Man könnte die Digital-Euphorie als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Coaches sehen, denn die digitalen Kontakte zermürben die Menschen und machen sie krank.

Merken die Online-Coaching-Fans gar nicht, daß sie sich selbst abschaffen!? Wozu braucht es noch einen Menschen am anderen Ende der Zoom-Verbindung? KI-Systeme machen das schneller und billiger – zudem 24/7, ohne Urlaub, ohne Krankheit. Wer jetzt ja zum Online-Coaching sagt, der sagt ja zur Abschaffung des Menschen im Coaching-Prozeß. Chat-GPT kann übernehmen …

Schon ein kurzer Blick in die Literatur könnte heilsam sein für diese Bewußtlosigkeit. Säuglinge lernen Sprachlaute nur, wenn die Mutter physisch anwesend ist! Kommt die Sprache vom Tonband oder einem Video, bei dem die Mutter sogar zu sehen ist, lernt das Kind – nichts. Für den frühen Spracherwerb ist die körperliche Anwesenheit der Mutter eine NotwendigkeitWir sind nun mal keine eindimensionalen Kognitions-Maschinen, die nackte Informationen prozessieren. Menschen brauchen real anwesende Menschen für ihr Wachstum und ihre Gesundheit. Bei einem Gespräch geschieht so viel mehr als nur eine Übertragung von Informationen. Der körperliche Aspekt des Sprechens ist essentiell. Miteinander sprechende Menschen werden zu einem Organismus und schwingen gemeinsam.

Es ist vielfach erforscht und belegt, daß das entscheidende Element jeder therapeutischen Arbeit die Beziehung von Therapeut und Patient, Coach und Klient ist. Stimmt diese Beziehung, dann spielt die Methode, mit der gearbeitet wird, kaum noch eine Rolle. Und diese Beziehung lebt von der realen physischen Anwesenheit eines anderen Menschen, von äußerst feinen Schwingungen und Resonanzen, die kein Gerät dieser Welt erfassen oder gar übermitteln kann.

Die digital-materialistische Mechanisierung ist eine Sackgasse und eine moderne Form der christlichen Leibfeindlichkeit – und damit eine Schrumpfstufe des Humanismus. Coaching, das dem Wachstum und Heilwerden eines Menschen dienen soll, produziert in seiner digitalen Variante kranke Seelen und lebende Tote.

Digitale Interaktionen simulieren Nähe und Präsenz. Sie erzeugen die Illusion, mit einem anderen Menschen zusammen zu sein. Doch unsere Körper – mit ihren wundervollen Vernunft des Leibes (Nietzsche) – wissen, daß wir nicht wirklich mit einem anderen Menschen zusammen sind, auch wenn wir ihn sehen und hören. Diese Dissonanz der vorgetäuschen Anwesenheit ist grausam und erschöpft uns bis ins Mark.Mit anderen Worten: Online-Coaching ist wie Sex mit Kondom – und obendrein mit einer Gummipuppe

16. Juli 2023