Arzt-Geschichten (1): der Orthopäde

Ich kenne das Medizinsystem auch von innen, da ich Mitte der 1980er Jahre 18 Monate Zivildienst in einem Universitätskrankenhaus gemacht habe. Das Personal dort ließ kein Klischee des Arzt-Schwestern-Lebens aus: vom saufenden Chirurgen bis hin zum Arzt- Krankenschwestern-Treffpunkt für hektische Schäferminuten im Bettenlager im Keller. 

Als Zivi hab‘ ich das Essen für die Patienten zubereitet, sprich: aufgewärmt. Es wurde gegen 7 Uhr von der Krankenhausküche angeliefert und kühlte bis 11.30 Uhr ab. Dann hab ich’s in einem Umluftofen wieder warm gemacht und serviert. Seither weiß ich eines sicher: Krankenhaus-Essen macht krank. 

Meine Zivildienst-Zeit war auch die Zeit der ZDF-Serie Schwarzwaldklinik(Professor Brinkmann – Sie erinnern sich!?), die ich vor dem Hintergrund meines Arbeitsplatzes Krankenhaus sofort als Dokumentarfilm erkannte. 

Damit zum ersten Teil meiner Arzt-Geschichten, in denen ich Ihnen erzähle, was mich über die Jahre geplagt hat – und was und wer mir geholfen hat. 

Auftritt: der Orthopäde 

Vorhang auf: Sie sehen eine große Münchner Orthopädiepraxis in teurer Innenstadtlage. Im Wartezimmer hängen die üblichen fad abstrakten Bilder, die niemanden berühren, weil sie ohne jeden Ausdruck sind. 

Warum bin ich hier? Mein linker großer Zeh schmerzt stark. Was zunächst nur nach längeren Bergtouren der Fall war, ist zum quälenden Dauerzustand geworden. Und das mit 33 Jahren. 

Bevor ich den Arzt sehe, wird eine Röntgenaufnahme gemacht. Dann warte ich in einem von mehreren kleinen Sprechzimmern. Der Orthopäde, Ende Vierzig, hetzt herein, grüßt mich flüchtig und geht sofort zum Leuchtkasten an der Wand, an dem die Sprechstundenhilfe schon das Röntgenbild angebracht hat. Er ruft mir die Diagnose nach hinten, während er weiter aufs Bild schaut: Hallux rigidus. Also eine Arthrose des Großzehengrundgelenks. 

Als der Orthopäde sich umdreht und sieht, wie ich meinen Fuß freimache, winkt der entsetzt ab. Das braucht er nicht. Einen echten Fuß, den er sich ansehen und womöglich berühren soll … Nicht nötig! Das Röntgenbild reicht. 

Dann greift er ins Regal, drückt mir eine Broschüre in die Hand und verkündet: „Es gibt drei verschiedene Operations-Möglichkeiten. Die sind hier dargestellt. Suchen Sie sich eine aus und machen dann einen OP-Termin.“ Sagt’s und wendet sich zur Tür, um zum nächsten Röntgenbild samt menschlichem Anhängsel zu eilen. 

Ich will naiverweise noch wissen, ob ich selbst etwas tun könne, vielleicht mit Krankengymnastik? Der Orthopäde stoppt, wendet sich im Türrahmen um und sagt: „Das können sie machen. Wird ihnen aber nichts helfen. Ich laß ihnen einen Rezept ausstellen. Können sie am Empfang abholen“. 

Wenn Herablassung töten könnte, wäre ich in diesem Augenblick tot umgefallen, denn der Ton unseres Orthopäden war Herablassung pur – verbunden mit einer kräftigen Dosis Empörung darüber, daß ich auf die Idee kommen konnte, ein Nicht-Mediziner, womöglich ich selbst, der Patient, könnte irgend etwas zu meiner eigenen Gesundheit beitragen. 

Das ist genau der Punkt, an dem persönliches Wachstum beginnt, denn das geht immer mit Eigenverantwortung und Selbstermächtigung einher. 

Was hat mir geholfen? 

Ich bin dann zur Krankengymnastik. Nach der dritten Sitzung beherrschte ich die nötigen Griffe, mit denen ich selbst mein Großzehengelenk lockern und freimachen konnte. Bald waren die Schmerzen Geschichte. 

Bis heute, dreißig Jahre später, bin ich beschwerdefrei. Einzig nach längeren Bergtouren mit mehr als fünf Stunden Gehzeit und steilem Abstieg, schmerzt der Zeh wieder. Dann wende ich die gelernten Massage- und Dehn-Übungen an – und gut ist’s. 

Mein Osteopath, der in einer späteren Folge meiner Arzt-Geschichten ausführlich vorkommt und den ich damals noch nicht kannte, hat mir später erläutert, welche langfristig schädlichen Folgen eine Operation mit Versteifung des Zehengelenks gehabt hätte: Fehlhaltung, verschobenes Becken, schiefe Wirbelsäule usw. usf. Ich wäre zum Dauerpatienten beim Orthopäden geworden. Kundenbindung nennt man so was …