„Ich will weniger Kaffee trinken“ …

… sagte die Klientin im telefonischen Vorgespräch. Dabei trank Gudrun R. (52) nur zwei Tassen am Tag. Sie war also weit weg vom durchschnittlichen Kaffeekonsum der Deutschen. Doch was viel ist oder gar zu viel, entscheidet kein statistischer Durchschnittswert, sondern jeder für sich. Da gibt es kein Richtig. Jeder ist sein eigenes Maß.

„Können wir da was machen?“ fragte die Klientin leicht unsicher. „Keine Ahnung“, antwortete ich, „so ein Thema hatte ich noch nie. Auf jeden Fall können wir beide etwas lernen, wenn wir gemeinsam schauen, was möglich ist“.

Da die Klientin schon öfter bei mir war, z.B. mit den Themen Entscheidungsfindung und Schmerzminderung nach einem Unfall, wußte sie, daß in einer kinesiolgischen Sitzung oft mehr „geht“ als sie vorher glaubt.

In jeder Kinesiologie-Sitzung kann ein Wunder geschehen

„In jeder Sitzung kann ein Wunder geschehen!“ Das ist die Grundeinstellung, mit der wir Kinesiologen arbeiten. Dieses Wunder ist nicht das Ziel, man kann es nicht anstreben. Man kann nur bereit dafür sein, es empfangen und willkommen heißen, wenn es sich denn ereignet. Es ist wie beim Bogenschießen im Zen-Buddhismus: Will man unbedingt treffen, geht der Pfeil daneben, weil man zuviel macht. Läßt man den Schuß geschehen, dann findet der Pfeil den Weg ins Ziel.

Dieser sanfte, gewaltfreie Weg ist der Königsweg – im Coaching und in der Kinesiologie.

Eine Woche nach unserem Telefonat kommt die Klientin in meine Praxis in München. Mit erwartungsvollen großen Augen begrüßt Gudrun R. mich. Sie freut sich auf unsere gemeinsame Stunde. Ich auch. Und so legen wir los.

Zuerst kommen die Klärungstests. Dabei mache ich mich mit dem System eines Klienten vertraut. Mit System ist die Gesamtheit unserer strukturellen, geistigen und emotionalen Verfaßtheit gemeint. Mit anderen Worten: Körper, Geist und Seele. Diese drei Dimensionen wirken immer zusammen. Es gibt nichts nur Emotionales oder nur Körperliches.

Der Muskeltest sagt, wo es klemmt

Mit Hilfe des Muskeltests erkunde ich die aktuelle Verfassung der Klientin – ihr Streßniveau. Falls nötig, machen wir Entstressungen und Aktivierungen, so daß die Klientin ganz präsent ist und konzentriert an ihrem Thema arbeiten kann.

Bei den Klärungstests kommt die Klientin zudem mit sich in Kontakt. Sie spürt sich und ihre Reaktionen. Das ist ganz wichtig. Denn nicht ich entscheide, ob ein Muskel hält oder weggeht, die Klientin muß das eindeutig für sich wahrnehmen. In der Kinesiologie – und auch im Coaching – gibt es kein „The doctor knows best!“ Auf Deutsch: „Ich fühl mich gut, Herr Doktor, aber wie’s mir geht, müssen sie mir sagen.“

Ein Kinesiologe arbeitet wie eine Hebamme

Als Coach und als Kinesiologe bin ich wie eine Hebamme: Ich zeuge das Kind nicht, ich empfange es nicht, ich gebäre es nicht, ich nähre es nicht. All das macht die Klientin, der Klient. Ich helfe nur dabei, wenn sie eine neue Fassung ihrer selbst auf die Welt bringen. Wie eine Hebamme.

In Falle von Gudrun R. ist die neue Fassung ihrer Selbst eine Gudrun, die die Wahl hat. Eine Wahl, die sie bisher nicht hatte. Mittels Muskeltest formulierte Gudrun R. ihr Ziel: „Ich darf Kaffee trinken“. Soll heißen: Ich muß nicht – ich habe die Wahl, ich kann entscheiden.

Ziel einer jeden kinesiologischen Balance ist es, dem Klienten neue Handlungsmöglichkeiten und Wahlfreiheiten zu erschließen. Der Autopilot, der oft seit Jahrzehnten sein Leben bestimmt, wird ausgeschaltet. Freiheit tritt an seine Stelle.

Die De-Fusion eines Emotionsknäuels

Ich lasse Gudrun R. mir ausführlich erzählen, bei welcher Gelegenheit sie den Kaffee trinkt, den sie nicht mehr trinken will. Es handelt sich um ein Ritual, bei dem sie nachmittags zur Ruhe kommt. Sie nimmt sich Zeit für sich, schaltet ihr Telefon aus, läßt Musik erklingen, zündet eine Kerze an, setzt sich mit einem Buch in ihren Lesesessel – und trinkt ein, zwei Tassen Kaffee, oft mit einem Stück Kuchen oder mit Keksen.

Die Kaffee-Situation besteht aus neun Elementen:

  • Ruhe,
  • Lieblingssessel,
  • Telefon ausgeschaltet,
  • Zeit für sich,
  • lesen,
  • Musik,
  • Duftkerze,
  • Kekse, Kuchen,
  • Kaffee.

Diese Elemente sind im Emotions-Haushalt der Klientin miteinander verschmolzen und als eine Einheit gespeichert. Ich mache mit Gudrun R. deshalb eine De-Fusion – mit dem Ziel, die neun Einzelteile getrennt voneinander bearbeiten zu können.

Kräutertee statt Kaffee - das war das Ziel der Klientin für ihre kinesiologische Balance
Kräutertee statt Kaffee – das war das Ziel der Klientin für ihre kinesiologische Balance

Ist der Kaffee wichtig?

Wir testen jeden Bestandteil dieser Ruhestunde und schauen, was das System der Klientin dazu sagt. „Braucht es die Musik?“ Der Muskel sagt ja, indem der beim Test hält. „Braucht es die Kerze?“ Wieder ein klares Ja. Und so gehen wir alle neun Posten durch, immer mit dem Ergebnis „ja“, bis wir beim letzten ankommen – dem Kaffee. „Braucht es den Kaffee?“ Der Muskel gibt nach. Geht weg wie Butter. Er sagt uns damit: Nein, den Kaffee braucht es nicht!

Gudrun R. grinst mich an – gleichermaßen erstaunt wie erfreut. Ihr Unbehagen ist also keine Marotte. Der Kaffee ist eine Dissonanz in ihrem sonst harmonischen nachmittäglichen Ruhe-Ritual. An diese Dissonanz wäre sie allerdings durch Nachdenken, also durch Zugriff auf ihr explizites Wortwissen nie herangekommen. Der Muskeltest, diese wunderbare „Sonde ins Unbewußte“, hat den Ruhestörer ausfindig gemacht, denn die Muskeln greifen auf unser implizites Handlungs- und Körperwissen zu.

Und auf dieser Ebene wissen wir ganz viel über uns. Wir wissen nur nicht, daß wir es wissen. Bis wir zu einem Kinesiologen gehen … Die „Vernunft des Leibes“ hat der Philosoph Friedrich Nietzsche das schon vor 150 Jahren genannt.

Die kinesiologische Balance löst den Knoten

In der nun folgenden kinesiologischen Balance – so nennen Kinesiologen den Kern einer „Behandlung“, in der der Problemknoten gelöst wird – nehmen wir das Element Kaffee aus der Szene heraus und ersetzen es, so der Wunsch der Klientin, durch Kräutertee.

Die Klientin steht vor mir. Ich berühre ihre „positiven Punkte“ – die beiden Stirnbeinhöcker. (Wie wichtig Berührung für Menschen ist, habe ich in meinem Artikel Lassen Sie sich berühren dargestellt.) Währenddessen führt sie sich mit geschlossenen Augen in ihrem inneren Kino den Film „Mein Nachmittags-Ritual“ vor.

Sie analysiert dabei nicht, denkt nicht nach. Sie spürt nur in die Szene hinein, nimmt wahr, was geschieht und wie es ihr damit geht. Dann blendet sie in ihrem inneren Film ganz langsam den Kaffee aus und dafür den Kräutertee ein.

Der Körper zeigt, daß sich etwas verändert hat

Ich weiß nicht, wann Gudrun R. wo in ihrem Film ist. Ich halte ihr die ganze Zeit – es dauert etwa fünf Minuten – die Stirnpunkte. Plötzlich spüre ich, wie sich die Pulse von linkem und rechtem Stirnpunkt synchronisieren. Kurz danach atmet die Klientin tief durch. Ein weiteres Kennzeichen, daß etwas geschehen ist.

Andere Klienten gähnen oder zucken mit den Füßen oder räuspern sich oder husten. Der Körper zeigt deutlich, daß sich etwa gelöst und verändert hat.

Ich beende die Berührung der Stirnpunkte. Die Klientin öffnet die Augen und strahlt mich an. Sie weiß: „Der Kas is bissen“, wie es in Bayern heißt, wenn etwas geschafft ist.

Mit meiner Schluß-Formel und in Verbindung mit dem letzten Muskeltest der Sitzung verabschiede ich die Klientin in ihr neues Leben: „Sind sie bereit, ihr neues Bild von sich wahrzunehmen, anzunehmen, mitzunehmen und ins Leben zu tragen?“

Sie sagt ja. Ihr Muskel sagt ja. Wir sind fertig.

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PS: Ein paar Wochen nach unserer Sitzung schreibt die Klientin mir, daß Sie bei Ihrem Ruhe-Ritual nachmittags nun Kräutertees trinke. Und das ohne jedes Gefühl der Kasteiung oder des Verzichts. Es fordere von ihr auch keine Selbstdisziplin oder Überwindung – sie fühle sich vielmehr ganz im Fluß mit sich. Und ab und zu trinke sie auch einen Kaffee – ohne schlechtes Gewissen. Einfach so.

PPS: Acht Jahre später, als wir wegen eines anderen Themas wieder eine Sitzung hatten, erzählte die Klientin mir beiläufig, daß die Kaffee-Balance immer noch ihre Wirkung tue.