Es lebe die Faulheit!

Fleiß ist gefährlich, denn er fixiert Blockierendes. Faule eröffnen neue Wege. Die produktive wohltuende Faulheit sollte jeder pflegen.

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Bei meiner ersten Festanstellung als Redakteur Ende der 1980er Jahre traf ich in der Redaktion auf folgenden Arbeitsablauf („workflow“ nennt man das heute): Freie Autoren faxten ihre Texte an die Redaktion (E-Mail und Internet waren noch nicht erfunden), die Sekretärin („Assistenz“ nennt man sie heute) legte den Redakteuren die sich zusammenrollenden Faxe auf den Tisch – und diese tippten sie ab. Sie haben richtig gelesen: tippten sie ab.Die Redakteure, die vor mir da waren, waren allesamt fleißig. Deshalb tippten sie. Ich war zu faul zum Abtippen. Aus meinem Nebenfach-Geschichtsstudium mit Schwerpunkt Militärgeschichte kannte ich die Hammerstein-Matrix, der ich mich seither verpflichtet fühle. Dazu gleich mehr.

Ich konnte den Verlagsleiter überzeugen, eine OCR-Software für ein paar hundert Mark zu kaufen. Hinfort faxten die Autoren ihre Texte in einen Computer, der wandelte sie in eine Word-Datei, und die holten wir Redakteure uns per Diskette auf unsere Computer.Durch die automatische Wandlung waren zwar einige Fehler in den Texten, doch wir hatten viel Zeit für sinnvolle inhaltliche Text-Arbeit gewonnen, die wir bisher mit stupidem Abtippen verschwendet hatten.

Was hat es nun mit der Hammerstein-Matrix auf sich? Kurt von Hammerstein war General der Reichswehr und machte sich grundlegende Gedanken zur Offiziers-Ausbildung. Er erstellte vier Gruppen, die sich aus zwei Eigenschafts-Achsen ergaben:

  • fleißig – faul
  • klug – dumm

Daraus ergeben sich diese vier Kombinationen:

  • fleißig und dumm
  • faul und dumm
  • fleißig und klug
  • faul und klug

Hüten muß man sich vor den Dummen und Fleißigen, denn sie richten Unheil an. Die größte Gruppe besteht aus den Dummen und Faulen – sie eignen sich für Routineaufgaben und machen 90 Prozent aus. Das sind die klassischen Befehlsempfänger, die Anweisungen und Druck brauchen.

Die Kombination aus Klugheit und Fleiß kennzeichnet die Kandidaten für die hohen Offiziersränge. Bleibt die vierte und letzte Gruppe – Zitat Hammerstein: „Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit.“Leser von Steven Coveys „7 Wege zur Effektivität“ werden nun „Aha“ denken, denn sie kennen Coveys Zeitmanagement-Matrix. Coveys „Visionär“, also der, der ein Unternehmen wirklich weiterbringt, weil er sich nicht vom Alltagskleinklein auffressen läßt, ist im Covey-Quadranten „Nicht dringend / Wichtig“ unterwegs. Da darf, ja muß man faul sein.

Faule treiben die Entwicklung voran, bringen Fortschritt und eröffnen neue Wege und Perspektiven. Diese produktive Faulheit kann jeder für sich hegen und pflegen. Statt ständig zu schaffen und zu werkeln zur Ruhe kommen, durchatmen, tagträumen, Abstand und Klarheit gewinnen. – Das ist der Weg des persönlichen Wachstums.

20. August 2023