„Es ist nur der Knöchel!“

Frau P. wirkt klar und entschieden beim Erstgespräch am Telefon. Besser gesagt: Sie wollte so wirken. Ich hatte das Gefühl, sie hatte das Gespräch geübt, einstudiert, damit sie bei mir auf jeden Fall den Eindruck erzeugt, der ihr wichtig ist.

Sie erzählt mir von einer Knöchelverletzung vor rund sechs Monaten. Trotz Operation und vielen Wochen Physiotherapie hat sie immer noch Schmerzen und kann nicht richtig gehen. Das schildert sie mir sachlich und auf den Punkt.

Und dann kommt der Satz, der mir zeigt, was wirklich mit Frau P. los ist: „Es ist nur der Knöchel!“ Ich hatte keine Frage irgendeiner Art gestellt, die das bezweifelt hätte. Das war nicht nötig. Denn die ganze Art der Eröffnung unseres ersten Gesprächs durch Frau P. signalisierte mir: Ich sage ihnen alles – nur nicht das, worum es wirklich geht!

Ich mag solche Konstellationen. Sie gleichen den Wundertüten meiner Kindheit: Für 20 Pfenning kaufte ich mir eine dieser bunten Papiertüten und ließ mich überraschen, was darin war. Oft wartete ich tagelang, bis ich die Tüte öffnete und malte mir in wilden Fantasien aus, was mich wohl Spannendes erwartete.

Alles ist psychologisch

Der Australische Kinesiologe Andrew Verity betont den ganzheitlichen Aspekt der kinesiologischen Arbeit:

„Wenn wir mit Menschen arbeiten, dann müssen wir mit ihnen in ihrer Gesamtheit arbeiten, mit ihren mentalen Einstellungen genauso wie mit ihren körperlichen Symptomen. Denn alles, was wir tun, ist psychologisch, auch wenn die meisten Leute vor diesem Gedanken zurückschrecken. Alles, was wir tun, ist körperlich und mit der geistigen Ebene verbunden.

All das zusammen ergibt das Paket, das wir Mensch nennen. Wenn der Mensch aber nicht weiß, wie er damit umgehen soll, dann entstehen Konflikte. Und diese führen zu Symptomen. Doch wenn man weiß, auf welcher Ebene sich das Problem befindet, weiß man auch, auf welcher Ebene die Lösung zu finden ist.“

Frau P.s Geschichte ist ein Paradebeispiel für die Wahrheit dieser Sicht der Dinge. Unser Knöchel existiert nicht unabhängig von unseren Emotionen und unserer geistigen Haltung. Was das bei Frau P. bedeutet, sollte sich bald zeigen.

Aus dem Tritt gekommen

Sie ist Ende Fünfzig, verheirat, keine Kinder und hat eine gute Position bei einem angesehen Arbeitgeber. In der materiellen Welt stimmt alles.

Dann kam der Tag mit dem Knöchel. Es war in der Mittagspause. Beim Verlassen des Bürogebäudes knickte sie mit dem rechten Fuß um. Einfach so. Kein Hindernis, kein Loch, keine Schwelle.

„War etwas Außergwöhnliches in dieser Zeit“, frage ich. Frau P. zögert, kämpft mit der Hemmung, etwas Schambehaftes zu offenbaren. Dann kommt diese Antwort: „In der Woche ist mein Mann endlich in die Entzugsklinik gegangen. – Er wurde während der Coronazeit zum Alkoholiker.“

Und nach einer kleinen Pause schickt sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, den Schlüssel zu ihrer Situation hinterher: „Da bin ich aus dem Tritt gekommen“.

„Haben Sie bemerkt, was Sie gerade gesagt haben!? ‚Da bin ich aus dem Tritt gekommen.’“ Frau P. sieht mich mit großen Augen an.

„Kennen Sie sowas von früher“, frage ich weiter. „O ja“, kommt sofort die Antwort, „beim Handball“. 

Ein Muster zeigt sich

Frau P. hat zwei ältere Brüder. Mit denen spielte der Vater immer Fußball. Kein Sport für Mädchen, wie der Vater fand, deshalb durfte sie nicht mitspielen. So begann sie mit Handball im Verein. Zu den Auswärtsspielen fuhr ihr Vater sie. Ohne die Brüder. So hatte sie die ganze Aufmerksamkeit des Vaters für sich. 

Wenn Frau P. sich bei einem Spiel verletzte, kam noch die Fürsorge des Vaters hinzu. Das genoß sie. Also knickte sie immer mal wieder bei einem Spiel um. 

Da zeigt sich ein Muster: Das Bedürfnis nach väterlicher/männlicher Aufmerksamkeit. Als Mädchen brachte ihr das Umknicken die Fürsorge des Vaters und gab ihr das Gefühl von Sicherheit (Papa ist da und kümmert sich um mich, wenn ich mich verletze). 

Ihr Mann nahm ihr mit seiner Alkoholkrankheit eben dieses Gefühl der Sicherheit. Der Beginn seines Entzugs entzog ihr seine Aufmerksamkeit. Er ist ganz mit sich selbst beschäftigt. Also knickt Frau P. um. Früher hat das geholfen. Jetzt bringt es nur Beschwerden bzw. höchstens die Aufmerksamkeit von Ärzten, Physiotherapeuten oder Coaches. Alles Ersatz.

Ich arbeite an Frau P.s Knöchel mit einer Technik namens Unfallrückruf, die gespeicherten Streß löscht und die Bahn frei macht für die Selbstheilungskräfte. Ergänzend visualisiert Frau P. eine Farbe, die ihren Fuß ausfüllt und durchpulst – sie wählt ein frisches Wiesen-Grün.

An das Thema Vater/männliche Aufmerksamkeit möchte sie (noch) nicht rangehen. Wobei es bei allem, was wir besprochen und getan haben, immer mit dabei war. Ein Knöchel ist eben nicht nur ein Knöchel, sondern verbunden mit unseren Emotionen und Gedanken. Er ist eine Möglichkeit, diese auszudrücken. Das hat er getan.