Seien Sie egoistisch! Zum Wohle aller.

Lob des Egoismus: Er ist gut, er tut gut. Ein psychisch gesunder Mensch vertraut, achtet und bewundert sich selbst.

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Mit wem reden wir am meisten? Mit uns selbst. Wer redet uns am meisten dazwischen? Wir selbst. Wer redet, wenn wir uns dazwischenreden? Nicht wir! – Wer dann? Die, die mit uns geredet haben, als wir uns noch nicht wehren konnten: Eltern, Verwandte, Lehrer, Autoritäten aller Art.

Unser ganzes Erziehungssystem – Familie und Schule – ist darauf ausgerichtet, daß wir unsere innere Stimme ignorieren und uns äußeren Stimmen unterwerfen. Diese Unterwerfung wird belohnt. Folglich sind wir vollgestopft mit dem Gerede anderer – Introjekt nennen die Psychotherapeuten das –, und wir glauben, wir selbst seien es, wenn wir das von anderen unbewußt Übernommene zu uns selbst sagen.

Eine zentrale Aufgabe jedes Erwachens und Erwachsens (als „waking up“ und „growing up“ bezeichnet Ken Wilber diesen doppelten Reifungs-Prozeß) ist es, sich bewußt zu werden, wer da spricht und zu erkennen, wann unsere authentische eigene Stimme erklingt. Das ist mühsam – und es dauert: Unser ganzes Leben lang sind wir damit beschäftigt, uns vom Introjekt-Müll zu befreien, mit dem wir in unserer ersten Lebensjahren überhäuft wurden.

Kinesiologie und Coaching helfen dabei. Wenn sie als Wege des Wachstums betrieben werden und nicht als Anpassungs-Werkzeuge, damit die Menschen noch besser funktionieren. Das ist ein großer Unterschied – und es ist ein großes Problem, weil die Coaching-Branche sich immer mehr in Richtung Anpassung bewegt. Da sitzt das Geld.

Firmen wollen gut geölte Mitarbeiter-Maschinen, die sie dann zynisch Human Ressources“ nennen. Der Coach macht den Ölwechsel im Auftrag der Chefetage. Als Pathologie der Normalität bezeichnete Erich Fromm diese Anpassung von Menschen an kranke Systeme schon 1953.

Alle 20 Sekunden tötet auf der Erde ein Mensch einen anderen Menschen. Aus Egoismus? – Nein. Aus Gehorsam. Gehorsam einer Autorität gegenüber, die vorgeblich hohe Werte und Ideale vertritt. Sei es Staat, Regierung, ParteiKirche, NGO, WHO und wie sie alle heißen. Die Namen sind autauschbar, das Prinzip bleibt gleich.

Wenn Menschen gefoltert und abgeschlachtet werden, dann geht das nur mit Hilfe wohlerzogener Bürger, die der „Tugend“ Gehorsam folgen. Wer dem „Laster“ Egoismus frönt, taugt dazu nicht, denn ein Egoist hat keinen Anlaß, dem Programm anderer zu gehorchen. Ein Egoist kann nicht mißbraucht werden. Mit Egoisten kann man keine Diktatur betreiben.

Wo es um persönliches Wachstum geht, ist Egoismus die natürliche Ordnung, wie die Taoisten es ausdrücken. So, wie Wasser bergab fließt, will jeder Mensch, daß es ihm selbst gut geht. Ein psychisch gesunder Mensch vertraut sich selbst, achtet sich selbst und bewundert sich selbst.

Das früh eingepflanzte Gebot, diesem Naturbedürfnis Gewalt anzutun, und seine moralische Ächtung und Abwertung erzeugen im Menschen eine Seelenlähmung, eine Beschämung über die eigene Existenz.

Menschen, die sich selbst nicht vertrauen, sich nicht achten und sich selbst nicht bewunderen sind leicht zu beherrschen, denn sich lechzen nach Orientierung im Außen, nach Führung durch Autoritäten. Sie sind die sprichwörtlichen Schafe, die durch Angst beherrscht werden – ein einziger Hund reicht, eine ganze Herde zu kontrollieren.

Das beste Bild für die natürliche Ordnung und den gesunden Egoismus ist ein römischer Brunnen mit seinen drei Wasserschalen. Ein besonders schönes Exemplar steht im Kloster Maulbronn, in dem Hermann Hesse „Narziß und Goldmund“ beginnen läßt.

Die kleine Schale oben sind Sie selbst. Die mittlere Schale sind die Familie, Freunde, gute Bekannte, das nähere Umfeld. Die große untere Schale symbolisiert den Rest der Welt.

Schauen Sie sich so einen Brunnen und überlegen Sie sich, was nötig ist, damit die mittlere und die untere Schale gut gefüllt sind …

Sie wollen die Welt retten? Das geht nur, wenn sie selbst überfließen, in der Fülle sind und auch ihr näheres Umfeld (mittlere Schale) gut gewässert ist – dann erst ist Wasser für die Welt-Rettung da (untere Schale). Mit anderen Worten: Wer die Welt retten will, sollte sich zuerst um sich kümmern. Sonst hat er weder die Energie noch die Kreativität noch die Gesundheit für die Rettung der Welt.

Gerade Menschen, die in helfenden Berufen arbeiten, neigen dazu, noch das letzte Tröpfchen aus ihrer, der oberen Schale nach unten zu träufeln: „Ich will, daß es allen gut geht. So rasen sie mit Vollgas in den Burnout. Und können dann niemand mehr helfen – auch nicht sich selbst. Das ist der Preis für die erlernte Verdammung des Egoismus.

Zur Abrundung für Sie das herrliche Gedicht „Der römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer:

Auf steigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Füllen Sie Ihre Schale, bis sie reich und wallend überfließt. Nur dann ist genug für andere da.

21. Mai 2023