Schamanen ersparen einem das Denken

Trainer, Coaches und Speaker lieben Schamanen. Denn die kennen sie: die Geheimnisse des Lebens. Endgültig, unbezweifelbar und absolut.

 * * * * * * * *

Ab und zu schau ich mir Videos von Speakern an. Das sind die Leute, die vor 3.000 Zuschauern auf der Bühne stehen und das Publikum im Saal ohne Punkt und Komma mit weisen Worten beglücken. Diese „Speaker“ schwimmen im selben Teich wie ich. Auch bei ihnen geht es um persönliches Wachstum, deshalb guck ich ab und zu, was die so treiben.Sie verkünden – oft brüllend und mit dem Zeigefinger fuchtelnd – wie man „erfolgreich wird“ oder „sich motiviert“ oder „mehr verkauft“ (egal was). Das erzeugt im Publikum eine wohlige Wärme, ein seliges Gruppengefühl der gemeinsamen Teilhabe an tiefen Erkenntnissen – und auch dieses ganz besondere Volks-Gemeinschafts-Sportpalast-Kribbeln wie aus dem Lehrbuch der Massen-Psychologie.Da erzählt dann zum Beispiel ein Dietmar Kurz (Name erfunden) aus Winsen an der Luhe (diesen öden Ort gibt’s wirklich), daß er „lange bei Indianern gelebt“ habe. Die Steigerung von Indianern sind Schamanen, deshalb werden die auch noch ins Spiel gebracht, damit dem Publikum vor Ehrfurcht die Kinnlade runterklappt. Und mit offenem Mund kann man nicht denken, schon gar nicht kritisch.Dieser Dietmar Kurz, der da als „Speaker“ auf der Bühne steht und der aussieht wie ein Schlagersänger aus den 1980ern, war also bei Schamanen. Und die haben mit ihm, Matthias Reim, äh, Dietmar Kurz, auch noch geredet. Un – glaub – lich! Sie haben ihm nichts weniger als das Geheimnis des Lebens enthüllt. Und wenn Schamanen was sagen, ist das ist die absolute, ultimative, unbezweifelbare Wahrheit über die Wirklichkeit.

Schamanen haben mir gesagt!“ ist in Coaching-, Therapie- und Psychologie-Kreisen das Autoritäts-Argument schlechthin! Durch nichts zu toppen! So muß es im Mittelalter gewesen sein, wenn in einer Debatte unter Theologen jemand anmerkte, „Thomas von Aquin hat gesagt“ – oder 1965 in China, wenn jemand anhob mit: „Der große Vorsitzende Mao hat gesagt“ …Komisch nur, dass derselbe „Speaker“ drei Minuten vorher verkündet hat, es gebe keine Wirklichkeit, sondern nur Wahrnehmung. Auch das hat ihm natürlich ein Schamane gesteckt. Doch wenn das stimmt, kann er, Dietmar Kurz, gar nicht wissen, ob das, was er bei den Schamanen wahrgenommen zu haben meint, überhaupt geschehen ist.Wenn es, wie unser „Speaker“ behauptet, keine Wirklichkeit gibt, kann es auch keine Wahrnehmung der Wirklichkeit geben. Was nicht ist, kann man nicht wahrnehmen. Folglich ist die in Coaching-, Therapie- und Psychologie-Kreisen so beliebte Aussage „Es gibt keine Wirklichkeit“ unsinnig, denn diese Aussage kann ja nur in der Wirklichkeit getätigt werden. Doch da es die nicht gibt … Irgendwas geht sich da irgendwie nicht aus … Also beruft man sich auf Schamanen, dann paßt es wieder …Aber so was denke ja nur ich, der ich noch keinem Schamanen die Hand geschüttelt habe und deshalb darauf angewiesen bin, selbst zu denken. Und selbst denken ist gefährlich. Vor allem in Coaching-, Therapie- und Psychologie-Kreisen, wo man – gemäß der aktuellen Mode – glaubt, keiner Mode zu unterliegen.

29. Januar 2023