Aus der guten alten Zeit

Die sechziger Jahre sprühten vor Optimismus. Und schwarzer Pädagogik. Als Kind durfte man weder träumen noch traurig sein.

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Das goldene Zeitalter des 20. Jahrhunderts waren die sechziger Jahre. Nicht, weil ich da geboren wurde – zumindest nicht nur –, sondern wegen des ungebremsten Optimismus, der das Leben durchpulste. Der gipfelte in der Mondlandung im Juli 1969.

Und in den beiden Sätzen Neil Amstrongs. Der erste ist berühmt, jeder kennt ihn: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen – ein Riesenschritt für die Menschheit.“ Den zweiten Satz kennen nur wenige, und es ist umstritten, ob seine Geschichte wahr ist. Er lautet: „Good Luck, Mr. Gorsky!

Hintergrund: Als Junge flog Armstrong beim Baseball-Spielen der Ball in den Garten der Nachbarn namens Gorsky. Als er den Ball holte, hörte er einen Streit des Ehepaares mit, in dem Frau Grosky ihren Mann anschrie: „Du willst Oralsex? Den kannst du haben, wenn der Nachbarsjunge auf dem Mond herumspaziert!

Da diese Anekdote etwas von der dunklen Seite jener Zeit zeigt, paßt sie hierher, denn von der Rückseite des goldenen 1960er-Optimismus erzählen meine Geschichten zweier Klientinnen auch.

Frau K., geboren 1964, hatte – wie viele Kinder damals – ein Meerschweinchen. Und eine Schwester. Nun wollte es der Zufall, daß das Meerschweinchen genau am Geburtstag der Schwester starb. Als Frau K. deshalb traurig war und weinte wurde sie von den Eltern beschimpft und geschlagen, denn ihre Tränen störten das Geburtstagsfest der Schwester. Am Geburtstag der Schwester zu weinen sei ungehörig und rücksichtslos.

Seit diesen Schlägen hat Frau K. nicht mehr geweint. – Bis zu jener Sitzung bei mir, in der sie von der verbotenen Trauer vor gut fünfzig Jahren erzählte.

Frau S., auch ein Gewächs der sechziger Jahre, wuchs auf einem Bauernhof auf. Das bedeutete: arbeiten, arbeiten, arbeiten. Auch für Kinder. Wenn sie mal, wie gesunde Kinder das tun, nur dasaß und tagträumte, schlich der Vater sich von hinten an sie heran – und schlug ihr auf Hinterkopf und Nacken. Dazu brüllte er: „Was hockst du hier so faul herum!? Hast du nichts zu tun!?

Seither leidet Frau S. unter Verspannungen in Nacken und Schultern. Seither hat sie ein schlechtes Gewissen beim „Nichtstun“. Seither ist sie immer auf der Hut. Seither sitzt ihr die Angst im Nacken. Und sie tut viel, um sich von ihrem „Erbe“ zu befreien.

Good Luck, Frau K. und Frau S.!

23. April 2023