„Sie werden ihr Bein nie wieder“ …

… „richtig durchbiegen können“, sagte ein Chirurg vor über dreißig Jahren zu meinem Klienten. Der hielt sich brav daran, obwohl es gar nicht nötig war. Denn es lag nicht am Bein, nicht an den Muskeln oder Sehnen oder Knochen. Es lag am Gehirn. Dort wirkten die Worte des Arztes. Dreißig Jahre Leiden wegen eines Satzes …

Michael S. war Anfang fünfzig, als er in meine Praxis kam. Seit seinem schweren Autounfall mit Neunzehn konnte er sein rechtes Bein nicht mehr richtig beugen. Bei jeder Party, jedem lockeren Zusammensein, jedem Lagerfeuer durchzuckte ihn brennende Scham, daß er nicht einfach in die Hocke gehen und sich hinsetzen konnte wie seine Freunde. Umständlich mußte er sein rechtes Bein ausfahren und fast gestreckt irgendwie auf dem Boden unterbringen.

Das blieb niemand verborgen. Wenn Mädchen oder Frauen dabei waren, litt Michael S. besonders. Also mied er hinfort solche Treffen, wenn es ging.

Worte sind Taten – und treffen tief

Nach seinem Autounfall vor gut drei Jahrzehnten und dem schweren Trümmerbruch des rechten Oberschenkels begrüßte ihn der Arzt nach der Operation mit zwei Botschaften: einer guten und einer schlechten. „Wir konnten ihr Bein retten! Wir mußten nicht amputieren!“ Das war die gute Nachricht. Michael S. kamen die Tränen. Er war dem Arzt zutiefst dankbar, daß der das Bein gerettet hatte.

Dann kam die schlechte Nachricht: „Aber sie werden ihr Bein nie wieder richtig durchbiegen können!“ Das saß. Und es ging tief. Ganz tief. Doch das merkte Michael S. nicht. Er dachte vielmehr: „Da bin ich nochmal mit einem blauen Auge davon gekommen“.

Von nun an war das seine Identität: Ich bin der, der sein Bein nicht durchbiegen kann. Er identifiziert sich seit über dreißig Jahren mit dieser Arzt-Botschaft.

Kinesio… was? Der Klient ist skeptisch

Als Michael S. zur mir kommt, guckt er unsicher. Von Kinesiologie hat er noch nie gehört. Er kann sich schwer vorstellen, daß sich seine körperliche Einschränkung nach so vielen Jahren noch ändern läßt. Ohne Operation oder andere aufwendige und teure Verfahren. Und doch ist er da. Weil er es gern anders hätte, als es ist. Er wünscht sich eine Veränderung, eine Verbesserung.

„Wollen wir’s angehen?“ frage ich den Klienten. Er nickt. „Wir machen das“, sage ich und zeige auf die großformatige Übersichtsdarstellung „Touch for Health“ (Gesund durch Berühren), die an der Wand hängt. (Wie wichtig Berührung für Menschen ist, habe ich in meinem Artikel „Lassen Sie sich berühren“ dargestellt.)

Darauf ist die Essenz dieser kinesiologischen Kern-Methode griffig präsentiert. Das Alte Testament der Kinesiologie gewissermaßen. Mit diesem von Dr. John Thie in den frühen 1970er Jahren entwickelten Verfahren wurde die „Angewandte Kinesiologie“ aus einer Experten-Nische geholt und allgemein zugänglich, worauf sie sich von den USA aus rasch um die ganze Welt verbreitete.

„Wo Schmerz, da kein Chi. Wo Chi, da kein Schmerz.“

Bei Touch for Health werden Blockaden in den Meridianen, also den Energieleitbahnen mit denen auch die Akupunktur arbeitet, ausfindig gemacht und gelöst. Das Mittel dazu ist der Muskeltest, der Auskunft gibt, ob und wo eine Blockade besteht. Der Gedanke, der dahintersteht ist wunderbar einfach: „Wo Schmerz, da kein Chi. Wo Chi, da kein Schmerz.“ Wobei „Schmerz“ nicht nur körperlich zu verstehen ist, sondern auch metaphorisch. Michael S. hatte keine Schmerzen in seinem Bein, doch das Nicht-biegen-können war ein „Schmerz“ für ihn, eine Belastung, eine Beeinträchtigung seines Lebens.

Das zeigte sich auch auf einem anderen Feld: Im Vorabfragebogen hatte Michael S. angegeben, daß er seit vielen Jahren fast jede Nacht zwischen 3 und 5 Uhr aufwache. Da wurde ich hellhörig, denn das ist genau die Zeit, zu der der Organfunktionskreis Lunge besonders aktiv ist. Und die dazu gehörigen Gefühle sind Trauer und Kummer.

Die Grundlage dieser Herangehensweise ist das Lebensenergie-Modell der traditionellen chinesischen Medizin. Ist genügend Energie (Chi) an der richtigen Stelle, vollbringen die Selbstheilungskräfte ihr Werk. Im Abendland finden wir denselben Gedanken im Hippokrates zugeschriebenen Ausspruch „Medicus curat, natura sanat“ – Der Arzt behandelt, die Natur heilt. Kein Arzt heilt – das scheint in unserem sogenannten Gesundheitssystem vergessen zu sein.

Sprache und Autorität

Der Energiefluß von Michael S. war blockiert. Und das nur in Folge eines Satzes, in Folge von ein paar einfach so dahingesagten Wörtern. Es ist eine Geschichte über die Macht der Sprache und wie diese sich im Körper eine Menschen einnistet, ja hineinfrißt. Und es ist eine Geschichte über Autorität: Wenn eine Autorität etwas sagt, kommt deren Botschaft beim Empfänger als Wahrheit an, die nicht bezweifelt wird, die hingenommen wird.

An die Stelle einer äußeren Autorität tritt nun die innere Vernunft des Leibes. Ich teste mit dem jeweiligen Indikatormuskel die vierzehn Haupt-Meridiane daraufhin, ob der Energiefluß im zugehörigen Organsystems blockiert ist. Michael S. sagt dazu immer wieder den Satz „Ich biege mein Bein“  und projiziert in seinem inneren Kino den Film, wie er eben das tut.

Zehn der vierzehn Meridiane sind blockiert. Diese Blockaden lösen wir – und damit ist die Balance, wie eine Intervention in der Kinesiologie heißt, beendet.

Ich habe keine Sekunde am Bein des Klienten gearbeit. Die Muskeln, Sehnen und Nerven haben sich während der einstündigen Sitzung nicht verändert. Warum auch? Die sind ja in Ordnung. Der Gedanke, daß sie nicht funktionieren, war das Problem.

Wir weinen gemeinsam

Michael S. erhebt sich von der Behandlungsliege, steht vor mir und schaut mich mit großen Augen an. Leise fragt er: „Soll ich’s ausprobieren?“ Ich nicke. Er zögert, weiß nicht, was er denken und tun soll. Die Möglichkeit, daß eine Einschränkung, die jahrzehntelang sein Leben geprägt hat, tatsächlich weg sein könnte, überfordert ihn. Ich nicke ihm nochmal zu und sage: „Probieren Sie’s einfach“.

Und dann erlebe ich einen der bewegendsten Momente meiner Arbeit als Kinesiologe: Michael S. kniet sich hin. Bis ganz unten, bis er mit den Knien den Boden berührt. Einfach so. Er guckt zu mir hoch – und beginnt zu weinen. „Es geht! Es geht!“ ruft er. Da kommen auch mir die Tränen. Er steht wieder auf, kniet sich wieder hin. Nochmal und nochmal und nochmal. Immer wieder, um fassen zu können, daß er tatsächlich sein Bein wieder ganz durchbiegen kann.

Dann stehen wir beide nur da, schauen uns an und weinen gemeinsam.