Worte zerbrechen Seelen
Was schmerzt uns mehr: Schläge oder Worte? Und vor allem: Was schmerzt länger? Worte sind äußerst gefährliche Waffen.
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„Ein Peitschenhieb schlägt Striemen, ein Zungenhieb zerbricht Knochen“, heißt es im Alten Testament. Mit den Begriffen der alten Chinesen formuliert ist der Peitschenhieb eine Yang-Verletzung – außen, sichtbar, kurze Zeit wirksam –, der Zungenhieb dagegen eine Yin-Verletzung – innen, unsichtbar, lange wirksam.
Yang-Verletzungen aller Art, also körperliche Gewalt, haben wir auf dem Schirm, berücksichtigen sie, und wir sind es gewohnt, Yang-Verletzer zu verabscheuen und zu verurteilen. Dabei richten Yang-Verletzungen in der Regel weniger und vor allem weniger lang andauernd emotionalen Schaden an als Yin-Verletzungen; und sie sind seltener als diese.
In meiner Praxis-Arbeit erlebe ich es immer wieder, daß plötzlich ein Satz der Mutter, des Vaters, der Oma oder des Bruders aus Kindheitszeiten ins Bewußtsein eines Klienten springt – und daß dieser Satz noch Jahrzehnte später schmerzt wie am ersten Tag.
Weil es ein Zungenhieb war, der die Seele verletzt und einen Schmerz erzeugt, der lebenslang anhalten kann, wenn das Ereignis nicht bearbeitet wird.
Das geschieht auch bei Themen, die vermeintlich in Gefielden angesiedelt sind, die mit solchem „Psychozeug“ aus der Kindheit oder Jugend nichts zu tun haben, also im sogenannten Business Coaching. Was zeigt, daß die Unterscheidung von „Business Coaching“ und „Life Coaching“ nur Marketing-Voodoo ist, aber nicht in der Sache begründet.
Als könne die persönliche Geschichte eines Abteilungsleiters oder Geschäftsführers nicht die Art und Weise bestimmen, wie dieser auftritt, handelt, denkt, spricht, urteilt, wahrnimmt. Niemand ist eine reine Business-Kognitions-Maschine, die sich vom Rest der Biografie lösen kann.
Neben den Schlägen mit Worten gehören auch die mit Blicken zu den lange nachwirkenden Yin-Verletzungen. Ein böser Blick zu einem Kind in einer Situation, in der es sehr verletzbar ist, steckt diesem noch viele Jahre später in jeder Pore.
Wir sollten uns also stets bewußt sein, daß wir schwerbewaffnet durchs Leben gehen – und unsere Zunge und unsere Augen hüten, damit sie nicht Amok laufen.
1. September 2024