Papa meint es gut

Kinder leben in einer anderen Welt als Erwachsene. Das ist vielen nicht klar. Und so gibt es Konflikte.

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Die meisten Menschen haben vergessen, wie es war, ein Kind zu sein. Dichter und Musiker haben meist noch Zugang zu ihren Kinderseelen – Controller, Ingenieure, Juristen, BWler und Ärzte eher selten.

Der gut situierte Vater, den ich mit seinem Sohn erlebte, gehört ziemlich sicher zu einer dieser Berufsgruppen. Kleidung, Habitus und Gattin (schlank, blond, sportlich) zeigten das an.

Wir sind auf einer Hotel- und Restaurant-Terrasse hoch über dem Tegernsee mit Postkartenblick auf den See und die Berge. Vor allem den Touristen aus den Regionen nördlich des Limes entlockt der Ausblick Ausrufe des Entzückens„Schau mal, Manfred! Ist das nicht herrlich!?“ –, während die Münchner routiniert den See und die Berge als eine Verlängerung ihrer Stadtwohnung abhaken und lieber auf ihr Smartphone schauen, schließlich ist man wichtig.

Und die besonders Gebildeten fragen mit Kennermiene: „Sieht man von hier das Haus von Manuel Neuer?“ Tut man nicht, denn das ist links ums Eck, zum Leidwesen der alteingesessenen Nachbarn dort …

Besagter Vater betritt mit seinem dreijährigen Sohn die Terrasse und haut ihm ein „Schau mal, Moritz, der See und die Berge!“ um die Ohren. Vaters Blick in die Ferne ist völlig entgangen, daß der kleine Moritz anderweitig beschäftigt ist. Er hat ein glitzerndes Steinchen entdeckt, das er in die Hand nimmt und dem Papa stolz hinhält, damit der sieht, was er, Moritz, Tolles gefunden hat.

Doch Papa nimmt seinen Sohn nicht wahr, zumindest nicht als eigenen Menschen mit eigener Sicht auf die Welt. Er wiederholt sein „Schau mal, Moritz, der See und die Berge!“. Schließlich ist man von weiterher gekommen, um diesen See und diese Berge zu sehen. Das ist Moritz egal. Er will, daß Papa seinen sensationellen Schatzfund wahrnimmt und anerkennt. Ein glitzernder Stein!

Doch Papa verliert jetzt die Geduld. Der Sohn soll den Ausblick vom 5-Sterne-Hotel endlich gebührend würdigen. Also reißt er den Jungen hoch, um ihm un-miß-ver-ständ-lich die schöne Aussicht aufzuwingen. Dem Kind fällt sein Schatz, das faszinierende Steinchen, aus der Hand.

Moritz fängt zu weinen an und versucht, sich aus Papas Klammergriff zu befreien. Er weint lauter. Und noch lauter. Nun schauen die Leute. Das ärgert Papa noch mehr …

Auftritt Mama. Sie greift sich ihren Sohn und entreißt ihn dem Vater mit einem beherzten „Laß ihn!“. An ihrer Brust, also in ihrem Herzkohärenzfeld, wo es für das Kind fast so schön ist wie damals in ihrem Bauch, beruhigt Moritz sich langsam.

Papa stiert verärgert und trotzig weiterhin auf See und Berge. Der Familien-Nachmittag am schönen See ist ruiniert.

Einem drei Jahre alten Jungen ist es egal, ob er Blick aufs Matterhorn, den Fujiyama oder den Mount Everest hat. Was zählt, ist das, was er greifen kann, weil er es begreifen will. So war Papa auch mal. Doch er hat es längst vergessen. Vor lauter Excel-Tabellen, Meetings und agilen Projekten …

7. Juli 2024