Endlich Burnout!

Feiern Sie Ihren Burnout, denn er führt Sie zu sich. Dann sind Sie endlich ganz da. Im Leben.

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„Ihnen verdanke ich meinen Burnout“, sagte mir kürzlich eine Klientin und lächelte mich verschmitzt an. Ihre Augen leuchteten. Denn sie lebte. Mehr als je zuvor.

Das war rund ein Jahr, nachdem Frau N. zum ersten Mal in meiner Praxis war. Es war ein Schmetterlings-Jahr für sie, also ein Jahr der Verwandlung und des Wachstums. Als Raupe kam die Klientin, dann verflüssigte sie sich im Puppen-Stadium, alles in ihr kam in Bewegung – und schließlich entstand sie neu als Schmetterling.

Nun ist sie dabei, ihre Flügel zu entfalten und macht die ersten Versuche zu fliegen. Bei jeder Sitzung mit ihr werde ich durchflutet von Dankbarkeit, das miterleben und Zeuge dieser Schönheit der Selbstwerdung sein zu dürfen.

Vorher funktionierte Frau N. nur. Viele, viele Jahre. Drehte als Führungskraft in der Medienbranche ein großes Rad. 150 Prozent organisiert, effizient und effektiv. Sie pfiff – und die Leute folgten. Als Virtuosin der Leistung wirbelte sie tagtäglich durch die Firma, in der sie arbeitete und erledigte zudem en passant zahlreiche Aufgaben weit über ihr Aufgabengebiet hinaus.

So jonglierte sie durch ihr Berufsleben. Privatleben war nur ein Wort, keine Wirklichkeit. Nach und nach bildete sie eine Reihe von Symptomen aus: Haut, Schlaf, Verdauung. Die Mediziner hielten dafür Pillen und Kapseln bereit, die gar nicht oder nur kurz Linderung brachten – wie auch?!

Die Not wurde größer, die Symptome schlimmer. Frau N. reagierte nach dem bewährten Muster: noch mehr vom selben Falschen. Noch effizienter, noch organisierter, noch disziplinierter. Nur nicht aufhören zu funktionieren. Und vor allem: Sie erlaubte sich nicht, zusammenzubrechen, das ging gar nicht – obwohl alles in ihr danach schrie.

In diesem Zustand lernte ich sie kennen. Wiewohl sie nicht deshalb bei mir war. Doch unser System – die Einheit von Leib, Seele und Geist – ist klug, und das ihre holte sich schnell, was sie brauchte, auch wenn sie nicht wußte, daß sie es brauchte.

Schon mit der ersten Sitzung kam ihr Leben ins Rutschen. Im positiven Sinne. Auch wenn ihr das zunächst nicht geheuer war. Der Weg vom Falschen ins Richtige kann sich zunächst falsch anfühlen, weil das Falsche so viele Jahre das Leben geprägt hat.

Kurzum: Frau N. war schon im Fallen begriffen, als sie zu mir kam, und sie hoffte, von mir gehalten zu werden, wiewohl eine tiefere Ebene in ihr spürte, daß sie fallen mußte, und daß nur im Fallen Rettung war.

Und damit sind wir bei meinem Lieblings-Philosophen Friedrich Nietzsche, der seinen Zarathustra sagen läßt: „Was fällt, das soll man auch noch stoßen!“

Das wirkt zunächst sehr befremdlich, denn unser erster Impuls ist es, zu halten und zu fangen, wenn etwas fällt. Das weiß Zarathustra auch, deshalb lautet das ganze Zitat: „Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stoßen! Kennt ihr die Wollust, die Steine in steile Tiefen rollt? Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – schnellerfallen!“

Das hat Frau N. gelernt: schnellerfallen!

Sie tat es zunächst im Wortsinne: Sie fiel bei der Arbeit einfach um. Zusammenbruch! Notarzt. Krankenhaus. Krankschreibung.

Zu Beginn hat sie auch im Fallen noch versucht zu steuern, zu planen und zu organisieren. Wollte ihren neuen Zustand, den Beginn ihres persönliches Wachstums, mit dem brachialen Effizienz-Denken angehen, der sie in eben jenen Zustand gebracht hatte, in dem alles nach Veränderung schreit: der Ausschlag, die Schlaflosigkeit, die blockierte Verdauung – oder bei anderen in ihrer Lage: der Alkohol-Konsum, die Sexsucht, der Social-Media-Irrsinn oder die Smartphone-Verwahrlosung.

Doch Veränderung braucht Zeit. Veränderung braucht Geduld. Veränderung braucht Mut. Und sie braucht Erkenntnis, und zwar gelebte Erkenntnis, also Erkenntnis, die vom Kopf ins Herz sinkt. Das ist bei jedem etwas anderes.

Bei Frau N. war es der römische Brunnen. Mit dem Bild des römischen Brunnens versuche ich, meinen Klienten einen gesunden und lustvollen Egoismus nahezubringen. Jenseits des üblichen kleinkarierten Moralismus des „Du bist nichts, das Wohl der anderen ist alles“. Diese tumbe Opfer-dich-auf-Ideologie zerstört so viele Leben!

Das beste Bild für gesunden Egoismus ist ein römischer Brunnen mit seinen drei Wasserschalen. Ein besonders schönes Exemplar steht im Kloster Maulbronn, in dem Hermann Hesse „Narziß und Goldmund“ beginnen läßt.

Die kleine Schale oben, das sind Sie selbst. Die mittlere Schale steht für Familie, Freunde, gute Bekannte, das nähere Umfeld. Die große untere Schale symbolisiert den Rest der Welt.

Schauen Sie sich so einen Brunnen an und überlegen Sie sich, was nötig ist, damit die mittlere und die untere Schale gut gefüllt sind.

Sie wollen anderen Gutes tun? Das geht nur, wenn Sie selbst in der Fülle sind und überfließen. Wer anderen helfen oder gar die Welt retten will, sollte sich zuerst um sich kümmern. Sonst hat er weder die Energie noch die Kreativität noch die Gesundheit für andere.

Menschen, denen die Haltung „Ich bin nicht wichtig, anderen soll es gut gehen“ andressiert wurde, neigen dazu, noch das letzte Tröpfchen aus ihrer oberen Schale nach unten zu träufeln. Und können dann niemandem helfenauch nicht sich selbst.

„Der römische Brunnen ist mein tägliches visuelles Mantra, schrieb Frau N. mir kürzlich. Nach dem Zusammenbruch hat sie ihr Büro nicht wieder betreten. Sie hat ihr Leben in nahezu jeder Hinsicht auf neue Füße gestellt. Es ist eine Geburt. Sie bringt sich selbst neu auf die Welt. Sie ist nun zum ersten Mal ganz da. In der Welt. Im Leben.

18. Mai 2025