Das Normale ist das Gefährliche
„Die Normalen sind die Kränkesten“, sagte Erich Fromm schon vor fünfzig Jahren. Seither ist es noch schlimmer geworden.
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Als mich kürzlich in einer Sitzung eine intelligente, feinfühlige, wissens-, erfahrungs- und lebensdurstige, junge Frau mit verzweifeltem Blick fragte: „Sagen Sie ehrlich, bin ich ein hoffnungsloser Fall?“, gab mir das einen Stich ins Herz.
Welche unbewußte Verdrehung aller Werte und Maßstäbe kommt da zum Ausdruck?! Welche höchst zweifelhaften Wertungen anderer über sie hat diese Frau zu ihrem Schaden übernommen?! Doch zum Glück nur zum Teil, sonst wäre sie nicht bei mir, stellte mir nicht diese Frage.
Denn sie spürt trotz ihrer schmerzlich verschütteten Lebendigkeit, daß etwas nicht stimmt mit diesen Maßstäben der anderen. Und da sind wir bei der „Pathologie der Normalität“, wie der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm (1900-1980) schon 1953 das Hauptmerkmal unserer Zeit auf den Punkt gebracht hat.
1977, ein Vierteljahrhundert später, sagte Fromm in einem Gespräch: „Glücklich der, der ein Symptom hat, denn es zeigt ihm, daß etwas nicht stimmt. Die Normalen sind die Kränkesten. Die Kranken sind die Gesündesten.
Der Mensch, der krank ist, der zeigt, daß bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, daß sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und daß sie durch diese Friktion Symptome erzeugen. Ein Sympton ist wie Schmerz nur ein Anzeigen, daß etwas nicht stimmt.
Sehr viele Menschen, die sogenannten Normalen, haben sich so angepaßt, haben alles, was ihr eigen ist, verlassen, sind so roboterhaft geworden, daß sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden.“ (Hier das ganze Gespräch mit Erich Fromm.)
Diese verkümmerten, ja, verkrüppelten heutigen Standard-Ausgaben des Menschen bilden die Meßlatte für die „Normalität“. Als vor ein paar Jahren Propaganda-Politiker (ein weißer Schimmel diese Formulierung, ich weiß) das „neue Normal“ erfanden, potenzierte sich der Pathologie-Faktor der „Normalität“.
Mit anderen Worten: Wer unseren heutigen „normalen“ Alltag ohne irgendein Symptom leben kann, ist schon so abgestumpft, so dumpf, so entmenschlicht, so abgetötet, daß man heulen möchte.
Also: Erfreuen wir uns an unseren Symptomen! Begrüßen wir sie als Zeichen unserer Lebendigkeit! Gehen wir dann an die Wurzeln und legen unser ureigenes Selbst frei! Es ist der Ursprung unserer Lebendigkeit. Hier beginnt Heilung.
27. Oktober 2024